Makers - Das Internet der Dinge: die nächste industrielle Revolution

Chris Anderson

Makers

Das Internet der Dinge: die nächste industrielle Revolution

2013

286 Seiten

Format: ePUB

E-Book: €  3,99

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ISBN: 9783446436374

 

KAPITEL 1


DIE REVOLUTION DER ERFINDER

Fred Hauser, mein Großvater mütterlicherseits, wanderte im Jahr 1926 aus Bern in der Schweiz nach Los Angeles aus. Er war aber nicht nur Schweizer, sondern vor allem ein ausgebildeter Mechaniker, und da war es wohl unvermeidlich, dass auch ein Uhrmacher in ihm steckte. Zum Glück gab es zu jener Zeit in Hollywood für einen Feinmechaniker viel zu tun bei all den mechanischen Kameras, Projektionssystemen und der neuen Tontechnik mit Magnetbändern. Hauser fand einen Job in der Aufnahmetechnik der MGM-Studios, heiratete, wurde Vater einer Tochter (meine Mutter) und kaufte sich einen mediterranen Bungalow in einer Seitenstraße in Westwood, wo jedes Haus einen großen Rasen vor dem Haus und eine Garage dahinter hatte.

Aber Hauser war nicht nur ein technischer Angestellter. Nachts war er außerdem ein Erfinder. Er träumte von Maschinen, fertigte Entwürfe und technische Zeichnungen an und baute danach seine Prototypen. Er richtete sich in seiner Garage eine Werkstatt ein und stattete sie nach und nach mit den Werkzeugen aus, die er für seine Erfindungen brauchte: einem Standbohrer, einer Bandsäge, einer Stichsäge, einer Schleifmaschine und vor allem einer Drehmaschine zur Metallbearbeitung. Mithilfe einer solchen Drehmaschine und etwas Geschick kann jeder Stahl- oder Aluminiumblöcke in hochpräzise Maschinenteile verwandeln, egal ob Nockenwelle oder Ventil.

Anfangs hatten seine Erfindungen hauptsächlich mit seiner Arbeit zu tun, und er entwickelte verschiedene Bandlaufwerke. Mit der Zeit jedoch richtete er seine Aufmerksamkeit immer mehr auf den Rasen vor seinem Haus. Weil alle trotz der heißen kalifornischen Sonne unbedingt einen perfekt grünen Rasen vor dem Haus haben wollten, boomte das Geschäft mit Sprinkleranlagen. Die stolzen Hausbesitzer nutzten ihren neu gewonnenen Wohlstand, ließen ihre Gärten aufreißen und Bewässerungssysteme verlegen. Nach Feierabend drehten sie dann die Ventile auf und bewunderten die Wasserfontänen aus Versenkregnern, verstellbaren Düsen und Schwenkregnern, die ihre Rasen bewässerten. Eine beeindruckende Vorrichtung. Allerdings musste man immer selbst Hand anlegen, wenn auch nur, um das Wasser an- und wieder abzudrehen. Konnte man hier nicht auch ein Uhrwerk einbauen?

Hausers Antwort auf diese Frage war Patent Nummer 2311108 für den »sequenziellen Betrieb von Versorgungsventilen«, das er 1943 anmeldete. Konkret war damit ein automatisches Sprinklersystem gemeint, das im Wesentlichen aus einer elektrischen Uhr bestand, die das Wasser an- und abdrehte. Das Raffinierte daran war die Programmierung, die heute noch in ähnlicher Form für zeitgesteuerte Lampen und Thermostate verwendet wird: Im »Zifferblatt« der Uhr befand sich ein Ring aus Löchern, je eins alle fünf Minuten. Ein Stift, der durch eines der Löcher dringt, aktiviert einen Schalter, ein sogenanntes Relais, das ein Wasserventil öffnet oder schließt und so diesen Teil des Sprinklersystems kontrolliert. Über verschiedene Lochringe konnte man die einzelnen Teile des Bewässerungssystems steuern und alle Grünflächen rund ums Haus bewässern: vor dem Haus, hinter dem Haus, Innenhof und Auffahrt.

Hauser hatte den Prototyp gebaut und in seinem eigenen Garten getestet, bevor er den Patentantrag stellte. Noch während das Prüfverfahren lief, suchte er nach Möglichkeiten, seine Erfindung auf den Markt zu bringen. Und genau hier offenbarten sich die Grenzen des Industriemodells des 20. Jahrhunderts.

Es war damals schwer, nur mit einer Idee die Welt zu verändern. Man kann eine bessere Mausefalle erfinden, aber wenn man nicht Millionen davon herstellen kann, interessiert sich die Welt nicht dafür. Wie Marx bemerkte, hat derjenige die Macht, der die Produktionsmittel kontrolliert. Mein Großvater konnte das automatische Sprinklersystem zwar in seiner Werkstatt erfinden, aber er konnte dort keine Fabrik bauen. Um seine Erfindung auf den Markt zu bringen, musste er einen Fabrikanten dafür interessieren. Das ist schwierig, und der Erfinder muss dazu die Kontrolle über seine Erfindung abgeben. Der Besitzer der Produktionsmittel entscheidet, was produziert wird.

Doch mein Großvater hatte Glück. Südkalifornien war das Zentrum der neuen Bewässerungsindustrie für den Privatgebrauch, und eine Firma namens Moody erwarb schließlich eine Produktlizenz für das automatische Sprinklersystem. Im Jahr 1950 kam es als Moody Rainmaster auf den Markt, und die Firma warb mit den Wochenenden, die Hausbesitzer jetzt am Strand verbringen konnten, während sich ihr Garten zu Hause selbst bewässerte. Das System verkaufte sich gut und wurde mit jedem Nachfolgemodell immer ausgefeilter. Mein Großvater erhielt für alle Modelle Lizenzgebühren, bis in den 1970er-Jahren seine letzten Patente ausliefen.

Eine solche Erfolgsgeschichte erlebt von 1000 Erfindern nur einer. Die meisten schuften in ihren Werkstätten und bringen ihre Produkte nie auf den Markt. Mein Großvater selbst besaß noch 26 weitere Patente für andere Geräte, aber mit keiner anderen Erfindung hatte er Erfolg. Als er 1988 starb, hatte er insgesamt nur wenige Hunderttausend Dollar an Lizenzgebühren eingenommen. Ich erinnere mich an einen gemeinsamen Besuch bei dem Unternehmen, das Moody später aufkaufte, Hydro-Rain. Es war in den 1970er-Jahren, und ich war noch ein Kind. Er wollte mir das letzte Modell seines Sprinklersystems zeigen, das produziert wurde. Sie sprachen ihn mit »Mr. Hauser« an und behandelten ihn mit Respekt, aber offensichtlich hatten sie keine Ahnung, warum er da war. Sie hatten die Lizenz für seine Patente erworben und dann ihre eigenen leicht herstellbaren und profitablen Sprinklersysteme entwickelt, die den Käufer optisch ansprechen sollten. Diese neuen Systeme hatten mit Großvaters Prototypen nicht mehr Ähnlichkeit als diese mit seinen ersten Entwürfen.

So sollte es auch sein: Hydro-Rain war ein Unternehmen, das Produkte in hohen Stückzahlen für einen Wettbewerbsmarkt herstellte, der von Preis und Werbung bestimmt wurde. Hauser hingegen war ein kleiner, alter Einwanderer aus der Schweiz, dessen Erfindungspatente langsam ausliefen und der in einer umgebauten Garage arbeitete. Er gehörte nicht in die Fabrik und wurde dort nicht gebraucht. Ich erinnere mich daran, dass ein paar Hippies ihn auf dem Rückweg auf der Autobahn aus einem VW heraus beschimpften, weil er zu langsam fuhr. Ich war zwölf, und es war mir furchtbar peinlich. Mein Großvater war vielleicht ein Held des Kapitalismus des 20. Jahrhunderts, aber man merkte nichts davon. Er war nur ein Bastler, der in der wirklichen Welt verloren wirkte.

Dennoch ist Hausers Geschichte keine Tragödie; ganz im Gegenteil, sie war eine der wenigen Erfolgsgeschichten jener Zeit. Soweit ich mich erinnern kann, war mein Großvater glücklich und lebte für seine Begriffe im Luxus. Vielleicht hätte ich es aber auch nicht bemerkt, wenn es anders gewesen wäre, denn er war das lebende Klischee des Schweizer Ingenieurs, der sich mit einem Zeichenstift in der Hand sehr viel wohler fühlte als bei einem Gespräch. Wahrscheinlich wurde er für sein Patent angemessen entlohnt, auch wenn meine Stiefgroßmutter (meine Großmutter starb früh) die geringe Höhe der Zahlungen und seinen Mangel an Verhandlungsgeschick beklagte. Er war zweifellos ein hochbegabter Erfinder. Nach seinem Tod blätterte ich durch seine vielen Patentanmeldungen, darunter waren Patente für eine Zeitschaltung für einen Ofen und ein Aufnahmegerät ähnlich einem Diktafon. Dabei fiel mir auf, dass von seinen vielen Ideen nur die Sprinkleranlage es auf den Markt geschafft hatte.

Der Grund? Er war ein Erfinder, kein Unternehmer. Und von genau diesem Unterschied handelt dieses Buch.

Früher hatten Unternehmer es sehr schwer. Die großen Erfinder/Geschäftsmänner der industriellen Revolution, wie James Watt und Matthew Boulton, die durch ihre Dampfmaschinen zu Berühmtheit gelangten, waren nicht nur tüchtig, sondern auch privilegiert. Die meisten wurden in die herrschende Klasse hineingeboren, oder sie hatten das Glück, ein Mitglied der Elite zum Lehrmeister zu haben. Seit damals bedeutete Unternehmertum meistens, einen kleinen Gemüseladen oder einen anderen lokalen Einzelhandel zu eröffnen. Ganz selten einmal wagte es jemand, eine waghalsige Idee in einer eigenen Firma umzusetzen und den totalen Ruin zu riskieren für eine kleine Chance auf Reichtum.

Das Web macht es den Unternehmern unvergleichlich einfach. Jeder kann mit einer Idee und einem Laptop die Grundlage für eine Firma legen, die die Welt verändert. Man denke nur an Mark Zuckerberg und Facebook oder Tausende andere Web-Start-ups, die Zuckerbergs Vorbild nacheifern. Natürlich kann man auch scheitern, aber die Folgen sind nur noch überzogene Kreditkarten und nicht mehr lebenslange Schande und Schuldturm.

Das Web hat die Mittel für Innovation und Produktion demokratisiert. Jede neue Dienstleistung kann mit Programmcode in ein Produkt umgewandelt werden. Heute braucht man dafür keine besonderen Programmierkenntnisse mehr, und was man wissen muss, kann man online lernen. Man braucht keine Patente mehr. Mit einem einzigen Tastendruck kann man sein Produkt an Milliarden potenzielle Kunden weltweit »ausliefern«.

Vielleicht werden viele Menschen darauf aufmerksam, vielleicht auch nicht. Vielleicht entsteht daraus ein Geschäftsmodell, vielleicht auch nicht. Vielleicht wartet ein Topf mit Gold am Ende dieses Regenbogens, vielleicht auch nicht. Entscheidend ist, dass der Weg vom »Erfinder« zum »Unternehmer« heute so kurz ist, dass er kaum noch existiert.

In Start-up-Fabriken...

 

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