KI und die Disruption der Arbeit - Tätig jenseits von Job und Routine

Klaus Kornwachs

KI und die Disruption der Arbeit

Tätig jenseits von Job und Routine

2023

410 Seiten

Format: PDF, ePUB

E-Book: €  29,99

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ISBN: 9783446465985

 

Vorwort

Es war im Jahr 1982, als Ralf Dahrendorf (1929 – 2009), früherer hoffnungsvoller FDP-Einsteiger am Polithimmel und später Präsident der renommierten London School of Economics in der Wochenzeitung DIE ZEIT die Frage stellte, ob uns die Arbeit ausginge.1 Seine Frage zielte auf die Rationalisierungsverlierer des industriellen Arbeitslebens. Zwei Faktoren könnten seiner Analyse nach zum Verlust von Arbeitsplätzen führen: zum einen die angestiegenen Qualifikationsanforderungen, die dafür sorgen könnten, dass bisher gut qualifizierte Arbeitskräfte trotzdem aus dem Arbeitsmarkt herausfallen, und zum anderen die Fortschritte in der Automatisierung, die das Angebot an Arbeitsplätzen drastisch verringern könnten.

Spätere Schlagworte wie Dienstleistungs- oder Wissensgesellschaft waren noch nicht in Umlauf. Doch was hatte Dahrendorf damals für Vorstellungen über Arbeit? Meinte er die tariflich abgesicherte Erwerbsarbeit jener Zeit, die zum Bruttosozialprodukt westlicher Staaten hauptsächlich in Form von Tätigkeiten in der Produktion beitrug? Oder meinte er eine grundlegende Veränderung der Arbeit selbst und ihren Stellenwert in der Biographie eines Menschen? Dahrendorf stellte eher die Frage, ob es bei der Veränderung der Arbeitswelt mehr oder weniger vom Gleichen geben oder etwas völlig Neues auf den Plan treten würde.

Die Frage nach der Arbeit wurde nach den Ereignissen von 1989 aktueller als je zuvor: Hatte doch die Auflösung des „Ostblocks“, wie man es nannte, die Auffassungen über eine noch als möglich gedachte human-sozialistische Gestaltung der Arbeitswelt abrupt verändert. Der Westen schien über den Sozialismus in praxi wie auch über den utopischen Entwurf einer solchen Arbeitswelt „gesiegt“ zu haben, und mit dem Westen begannen die marktliberalen Ideologien und deren Spielarten zu dominieren. Was folgte, war eine Diskussion um das „Ende der Geschichte“, wie ein viel diskutiertes Buch2 titelte, und um die Globalisierung, die jedoch längst schon vor 1989 eingeleitet worden war. Es ging um die Privatisierung öffentlicher Betriebe und Dienstleistungen und um erste Überlegungen zur Virtualisierung (damals e-work genannt) von Arbeit. Die „Zukunft der Arbeit“ wurde zu einem der meistgenannten Titel in Veröffentlichungen und Büchern.3

Die Diskussionen drehten sich in den 90er-Jahren nach der Vereinigung in Deutschland um Themen wie

       das Recht auf (bezahlte Lohn-)Arbeit,

       die Frage, ob die neuen Bundesländer die „verlängerte Werkbank des Westens“ sind,

       die Arbeitslosigkeit in den Industrieländern,

       die Verlagerung von Arbeitsplätzen weltweit in Billiglohnländer,

       die Auseinanderbewegung der Einkommensschere innerhalb der einzelnen Staaten wie der Staaten untereinander, oft als Nord-Süd-Gefälle bezeichnet,

       den in Industrieländern zu beobachtenden faktischen Rückzug des Staates aus wesentlichen Bereichen der Daseinsfürsorge,

       den Aufstieg des neoliberalen Denkens in Wirtschaft und Politik,

       die Frage nach der Solidarität bei einem internationalen Arbeitsmarkt und danach,

       ob ein bedingungsloses Grundeinkommen eine Lösung oder eine Potenzierung der mit diesen Themen angesprochenen Grundprobleme sein würde.

All das kontrastierte seltsam mit der Tatsache, dass über Arbeit und ihre Gestaltung – gerade im Zusammenhang mit dem groß angelegten Programm der Bundesregierung über die „Humanisierung der Arbeit“ – zwar viel geschrieben wurde, jedoch kaum eine philosophische Auseinandersetzung um die Arbeit stattfand, die in der Öffentlichkeit nennenswert wahrgenommen worden wäre. Der Wunsch aber war damals schon da: Diese philosophische Auseinandersetzung, also das hartnäckige Nachfragen und Beleuchten der begrifflichen Voraussetzungen unseres Redens über Arbeit und unseres Lebens mit der Arbeit, müsste doch angesichts der rasanten Änderungen immer wieder stattfinden, und sie müsste in breiter Öffentlichkeit geführt werden. Dominiert wurde die Auseinandersetzung bis heute überwiegend von der Frage, ob die Rationalisierung durch Automatisierung eher zur Arbeitslosigkeit oder zu deren Überwindung beitrage.

Mittlerweile hat sich die technische Entwicklung sowohl in der Arbeitswelt, in der privaten sowie der globalen Kommunikation, aber auch in Hinsicht auf die Indikatoren des Zustands unseres Planeten4 mit einer Wucht beschleunigt, wie sie – phänomenologisch – an exponentielle Wachstumsprozesse gemahnt. Hinzu kamen die politisch gewollten globalen Deregulierungen der internationalen Finanz- und Kapitalströme schon in den 70er-Jahren,5 und damit die Internationalisierung der Märkte und folgerichtig auch der Arbeitsmärkte. Diese Entwicklungen haben in den beiden Jahrzehnten um die Jahrtausendwende (also etwa 1990 – 2010) zu massiven Koordinatenverschiebungen in der Arbeitswelt wie in unserer allgemeinen Lebenswelt geführt, die eine solche philosophische Auseinandersetzung berücksichtigen müsste. Höchste Zeit also, um nochmals und doch wiederum neu über Arbeit nachzudenken.

Nun hat sich in den Jahren zwischen 2010 und 2020 die Entwicklung der modernen Kommunikations- und Informationstechnik nochmals verändert, die Schlag- und Stichworte lauten nun Industrie 4.0, Big Data, Algorithmen und Künstliche Intelligenz. Diese etwas unpräzise als „Digitalisierung“ bezeichnete Transformation der technischen und organisatorischen Bedingungen der Arbeit hat die Inhalte und Formen der Arbeit bereits jetzt schon sehr stark verändert und sie wird dies weiterhin in einem beschleunigten Maße tun. Gerade die Nutzung der technischen Möglichkeiten durch die immens angestiegene Verfügbarkeit von Rechenkapazität und neuen Programmiertechniken, die man ebenfalls etwas ungenau Künstliche Intelligenz (KI) nennt, verstärkt den Eindruck, KI buchstabiere die Arbeit neu.

Um 2005 herum war zu beobachten, dass es Trends gab, die Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit aufzulösen. Diese Trennung wurde bis dato – außer bei Künstlern – als wesentliche Scheidelinie innerhalb des individuellen Rasters für Lebensgestaltung angesehen, mit Konsequenzen, die bis in den Bereich der Moral und der Pflichten reichten. Kategorien der Arbeit begannen nun, in die Freizeit, und Momente der Freizeitgestaltung in die Arbeitswelt einzudringen.6 Dabei fiel auf, dass durch die technische Entwicklung viele organisatorisch-gesellschaftliche Entwicklungen angestoßen wurden – nicht zuletzt die Frage nach einer Entgrenzung und damit neuen Bestimmung von Arbeitsort und Arbeitszeit. Die Schlagwörter Flexibilisierung, Telekooperation und Telearbeit kamen auf, später als Anglizismen aus der Sprache der Betriebswirtschaftler und Controller der e-commerce, das e-business und das Homeoffice. Die Forderung nach einem vernünftigen Verhältnis von Arbeitszeit und eigenbestimmter Zeit (nunmehr Work-Life-Balance genannt), die veränderten Mobilitätsanforderungen und eine zunehmende arbeitsbiografische Segmentierung beschleunigten den gefühlten Wegfall vertrauter Berufsbilder und lebenslang verwertbarer Qualifikationen. Es entstanden neue Tätigkeitsprofile, die man meist mit englischen Bezeichnungen versah. Und wieder verschoben sich die Koordinaten einer Diskussion um die Arbeit.

Da Arbeit nicht ohne Technik und Technik nicht ohne Arbeit gedacht oder begriffen werden kann, müsste eine Erörterung des Themas Arbeit auch die technikphilosophischen Diskussionen der letzten Jahre miteinbeziehen. Hier hat sich in der Deutung und dem Verstehen von Technik angesichts ihrer Informatisierung (nunmehr Digitalisierung genannt) und zunehmenden Biologisierung ein Wandel vollzogen, der bis heute im vollen Gange ist und der sich in der Pandemie der Jahre 2020 und folgende beschleunigte.

Vielfach verstehen wir bei der Arbeit, die wir durchführen, nicht mehr vollständig alle Schritte und Griffe, selbst wenn wir es wollten und alle erforderlichen Informationen zur Verfügung hätten. Die Arbeit ist abstrakter denn je geworden. Dies hat zwei Ursachen: Zum einen ist es die Abhängigkeit der Arbeit vom geeigneten Wissen und Können und damit die Abhängigkeit von der Verfügbarkeit geeigneter Informationen zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Zum anderen verschwindet die sinnliche Wahrnehmung des Arbeitsprozesses – also das, was man mit der Hand getan hat – hinter der Oberfläche der Technik, die den Arbeitsprozess unterstützt oder gar ersetzt. Auch dies hat schon in den 80er-Jahren zu einer...

 

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