Durchleuchten und Durchschallen - Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Zerstörungsfreie Prüfung von 1933 bis 2018

Günther Luxbacher

Durchleuchten und Durchschallen

Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Zerstörungsfreie Prüfung von 1933 bis 2018

2019

300 Seiten

Format: PDF, ePUB

E-Book: €  39,99

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ISBN: 9783446459373

 

1 Was ist und woher kommt die Zerstörungsfreie Prüfung? Relevanz des Themas, Stand der Forschung, Fragestellung der Untersuchung und ihre Methodik

Die Prüfung von Werkstoffen ist so alt wie die Technik selbst. In jeden produktionstechnischen Prozess ist heute in irgendeiner Art und Weise die Prüfung von Werkstoffen integriert.1 Bei der klassischen Materialprüfung werden die untersuchten Werkstoffe i. d. R. während des Prüfvorgangs zerstört oder zumindest verändert. Bei der klassischen Materialprüfung der industriellen Zeit nehmen diese Zerstörung spezielle Prüfmaschinen vor, welche den Werkstoffen das Wissen über deren Eigenschaften in möglichst objektivierter Form buchstäblich abringen. Neben dieser klassischen Form, der zerstörenden Materialprüfung, gab es immer schon Prüfverfahren, die ihren Prüfgegenstand nicht zerstörten. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts setzte sich dafür der Begriff der Zerstörungsfreien Materialprüfung bzw. der Zerstörungsfreien Prüfung (ZfP) durch, womit eine klare Abgrenzung zu den anderen Verfahren geschaffen war. Die ZfP stellt damit ein Teilgebiet der Technikwissenschaft Materialwissenschaft und Werkstofftechnik dar, zu dem die Materialprüfung gehört. Ihre genaue Einordnung ist jedoch nicht ganz einfach, erstens aufgrund der starken Inhomogenität der technikwissenschaftlichen Disziplinen im Allgemeinen2, zweitens aufgrund des geringen Selbstreflexionsgrades dieser Fächer3 und drittens speziell aufgrund des nicht immer eindeutig abgrenzbaren Gegenstandsbereiches der ZfP innerhalb dieses Wissenschaftssystems, worauf im Folgenden noch eingegangen wird.

Die Zerstörungsfreie Prüfung ist quasi die technologische Schwester der nicht invasiven medizinischen Diagnostik. Werden beim Menschen z. B. Hautkrankheiten durch Sichtprüfung erkannt, gelingt dies den ZfP-Ingenieuren beispielsweise durch visuelle Inspektion der Oberflächen von Bauteilen verschiedenster Art und verschiedenster Werkstoffe. Durch Betrachten von Gegenständen bei bestimmtem Lichteinfall werden Eigenheiten an deren Oberfläche registriert (visuelle Inspektion). Durch Anschlagen vieler Stoffe (z. B. Keramik) entsteht ein akustisches Signal, das dem geübten Gehör Aufschluss über Qualität und innere Homogenität eines Objektes zu geben vermag. Besonders augenfällig wird die Bedeutung der Klangprobe für die ZfP bei Kirchenglocken. In diesem Fall avanciert diese sogar zum zentralen Abnahmekriterium.4 Im 19. Jahrhundert diskutierten Ingenieure und Handwerksmeister leidenschaftlich über die verschiedenen Legierungselemente im Glockenguss, die einen ganz besonders guten Klang hervorbrächten.5

Durch Einfüllen von Flüssigkeiten in Konstruktionen können auch kleine Fehler beim Zusammenbau nachgewiesen werden, wie z. B. bei der Dichtigkeitsprüfung in der frühneuzeitlichen Büchsenmacherei. Erst danach erfolgte ein erster Beschuss des Laufes.6

Die „zerstörungsfreie Materialprüfung“, heute meist als „Zerstörungsfreie Prüfung“ (ZfP) bezeichnet, befasst sich also mit der Untersuchung von Bauteilen und Konstruktionen auf Fehler. 7 Sie hat, so eine gängige Definition, die Aufgabe, „in zu beanspruchenden Werkstücken ohne deren Zerstörung Inhomogenitäten oder Fehlstellen aufzufinden und die Prüfergebnisse so zu bewerten, dass eine Entscheidung über die Verwendbarkeit dieser Prüflinge herbeigeführt werden kann.“8 Deshalb erhielt sie auch die Bezeichnung „Defektoskopie“, also die Lehre von der Fehlerstellen-Sichtung. Auf die Unterscheidung zwischen Zerstörungsfreier Materialprüfung und Zerstörungsfreier Prüfung wird später noch eingegangen.

Mit den Fortschritten von Wissenschaft und Technik im Industriezeitalter des 19. Jahrhunderts kamen nach und nach neue Verfahren auf, etwa durch Sichtbarmachung magnetischer Feldlinien mit Eisenpartikeln an Metalloberflächen.

Mit der Nutzung von Röntgenstrahlen ab 1898 eroberte sich – analog zur Medizin – die Zerstörungsfreie Prüfung den Status einer Technikwissenschaft. Es wird jedoch noch zu zeigen sein, dass diese wissenschaftliche Anerkennung und die damit einhergehende Institutionalisierung als Teilgebiet der Materialforschung und -prüfung noch zäher Arbeit von Jahrzehnten bedurften. Flankiert von der Nutzbarmachung weiterer physikalischer Phänomene sowie der Entwicklung entsprechender interpretativer Verfahren gelang es, verschiedene bildgebende Verfahren auszuarbeiten, die Einblicke in das Innere von Werkstoffen und Werkstücken gestatteten, ohne diese vorher zu zerstören. Mit Hilfe dieser sog. „Grobstrukturanalyse“ konnten Bauteile mit Unregelmäßigkeiten wie etwa inneren Rissen oder Lunkern erkannt, in ihrer Bedeutung für den Endzweck eingeschätzt, gegebenenfalls aussortiert oder repariert werden. Auf diese Art und Weise wurden Unfälle und andere Schäden verhindert.9 Erst mehr als ein Jahrzehnt nach den ersten industriellen Anwendungen der Grobstrukturanalyse gelang es der Physik 1912 mit Hilfe der Röntgeninterferenzmethode, den Kristallgitteraufbau verschiedener Stoffe zu analysieren und damit stärker in das kristalline und subkristalline Gefüge der Materie vorzudringen. Diese „Feinstrukturanalyse“ hatte zunächst überwiegend Erkenntniswert für Physik und Chemie. Erst später wurde sie technisch relevant, etwa aufgrund der Möglichkeit des Nachweises von Atomgitterfehlern.

Die Zahl der Zerstörungsfreien Prüfverfahren sowohl für die Grob- als auch Feinstrukturanalyse wuchs im Laufe des 20. Jahrhundert unaufhörlich. Man denke etwa an die „klassischen“ Techniken der Röntgenspektralanalyse, des Impuls-Echo-Verfahrens mit Ultraschall, an die verschiedenen elektromagnetischen und thermographischen Methoden oder an die neueren und neuesten Techniken der Elektronenmikroskopie, Computertomographie usw. Die wachsende Zahl an Prüfverfahren ging auch Hand in Hand mit einer zunehmenden Entgrenzung der ZfP. Diese versteht sich heute nicht mehr nur als Teildisziplin der Materialprüfung, was u. a. durch die zunehmende Verwendung des Begriffes Zerstörungsfreie Prüfung anstelle desjenigen der Zerstörungsfreien Materialprüfung deutlich wird. Die ZfP entwickelt sich immer mehr zu einer Technikwissenschaft für die Entwicklung, Auswahl und Lehre zerstörungsfreier Untersuchungsmethoden von anorganischen und organischen Objekten jeglicher Art mit Ausnahme des menschlichen Körpers.10 Die Bandbreite hierbei reicht von der produktionsbegleitenden Kontrolle über die Speckschwartenmessung von Mastvieh, die Bauwerksüberwachung, Echtheitskontrolle von Schmuck und Kunstwerken, die Forensik, Zoll- und Grenzkontrolle, militärische Aufklärung bis hin zur Fernerkundung von Planeten.11 Obwohl diese disziplinäre Expansion der ZfP bereits seit Jahrzehnten in Gang ist, kam eine systematische Diskussion über die Abgrenzung und Verortung der Disziplin Zerstörungsfreie Prüfung im Wissenschaftssystem bislang nicht zustande.12 Dieser Befund ist auf die von vielen Technikphilosophen konstatierte Schwäche bei der Systematisierung und Selbstreflexion der Technikwissenschaften generell zurückzuführen.13

Innerhalb der ZfP wird häufig zwischen aktiven und passiven Prüfverfahren unterschieden. Bei aktiven Verfahren wird ein Signal durch das Bauteil gesendet und die von ihm dabei erzeugten Informationen hinsichtlich der verschiedenen Eigenschaften des Bauteils, z. B. dessen Werkstoff und dessen Verhalten oder auch dessen Geometrie, ausgewertet. Bei passiven Verfahren erzeugt das Bauteil das auszuwertende Signal selbst. Dieses Signal wird dann vor allem bezüglich des Entstehungsortes, aber auch seiner Eigenschaften ausgewertet, die Rückschlüsse auf das Stoffinnere erlauben.14 Letzteres Vorgehen wird etwa eingesetzt, um die Innenwirkung mechanischer Beanspruchung in Bauteilen während des Betriebes zu erfassen.15 So lautet etwa ein geflügeltes Wort in ZfP-Kreisen: „Man muss hören, wenn Risse schreien“.16

1933 waren ZfP-Methoden bereits so verbreitet, dass zur weiteren Auseinandersetzung mit ihr ein eigener technisch-wissenschaftlicher Verein ins Leben gerufen wurde. Technisch-wissenschaftliche Vereine dienten seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts der Interessenvertretung der Techniker, mehr aber noch dem Wissensaustausch innerhalb der technikwissenschaftlichen Fächer. Wichtige Beispiele bilden der 1856 gegründete Verein Deutscher Ingenieure (VDI), der 1893 ins Leben gerufene Verband Deutscher Elektrotechniker (VDE) oder der 1896 eingerichtete Deutsche Verband für die Materialprüfungen der Technik (DVM). Im Prinzip wäre es nicht falsch gewesen, die ZfP-Fachleute in den DVM zu integrieren, handelte es sich doch letztlich um Vertreter einer – wenn auch neuartigen – Methode der Materialprüfung. Doch der DVM war damals stark auf die akademische Forschung und auf zerstörende Methoden hin ausgerichtet. Erst Ende der 1920er Jahre begann zögerlich die Akzeptanz der neuen Richtung und die Integration der vor allem aus den Reihen der Industrie hervorgegangenen ZfP als Teildisziplin. In dieser Situation beschlossen Spitzenvertreter der ZfP unabhängig vom DVM die Gründung eines eigenen, selbständigen Vereins.

Zur Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Zerstörungsfreie Prüfung e. V., die 1933 als eine „Fördergemeinschaft“ gegründet wurde und 1937 in Gesellschaft zur Förderung Zerstörungsfreier Prüfverfahren, 1966 in Deutsche Gesellschaft für Zerstörungsfreie Prüfverfahren e....

 

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