Rechnet sich das? - Wie ökonomisches Denken unsere Gesellschaft ärmer macht

Philip Roscoe

Rechnet sich das?

Wie ökonomisches Denken unsere Gesellschaft ärmer macht

2014

316 Seiten

Format: ePUB

E-Book: €  16,99

E-Book kaufen

E-Book kaufen

ISBN: 9783446440654

 

TEIL 1

2 Vom Tausch zum Sinn des Lebens


In Großbritannien ist es in den drei letzten Jahrzehnten zu einer fundamentalen Veränderung bei der Betrachtung von Immobilienbesitz gekommen. Vor gar nicht so langer Zeit war die Bereitstellung von Wohnraum Bestandteil des Vertrags zwischen dem Staat und den Bürgern. Nach dem Zweiten Weltkrieg bauten mehrere Regierungen hintereinander Hunderttausende von Häusern in Staatsbesitz, die den Bewohnern billigen, langfristigen Wohnraum mit einem Schutz gegen willkürliche Mieterhöhungen bieten sollten. Wohnraum wurde als gesellschaftliches Gut angesehen, das vom Staat zur Verfügung gestellt werden und in seinem Besitz sein sollte. Am Ende der 1970er-Jahre lebten rund 40 Prozent der Bevölkerung in Häusern, die in städtischem Besitz waren und auch von den Städten instand gehalten wurden.

Anfang der 1980er-Jahre wurden jedoch viele dieser Häuser verkauft, im Rahmen von Margaret Thatchers radikalem Programm der marktfokussierten Reformen. 1980 wurde das »Recht zum Kauf« gesetzlich verankert (Housing Act); nun konnten Mieter, die seit mindestens zwei Jahren in einem städtischen Haus wohnten, ihre Wohnung mit einem beträchtlichen Nachlass kaufen. Das Recht zum Kauf erwies sich als eine der erfolgreichsten und beliebtesten politischen Maßnahmen der Thatcher-Ära. Der damaligen Lehre vom freien Markt zufolge »befreite die Regierung sich durch den Verkauf staatlicher Häuser von Liegenschaften, die Verluste brachten, und von teuren Beihilfen, verschaffte sich durch die Verkaufserlöse zusätzliche Einnahmen und machte bis dahin auf den Staat angewiesene Mieter zu unabhängigen Immobilienbesitzern.1 Anders ausgedrückt: Effizienz und Kostenersparnis wurden, zusammen mit einer neuartigen Doktrin der Aktivierung der Menschen, als Hauptvorteile dieser – und somit implizit aller – staatlichen Maßnahmen betrachtet.

Hinter dieser Strategie standen auch noch andere Motive. So waren zahlreiche kommunale Wohnhäuser baufällig geworden, und der neuen Denkweise zufolge würden sich jetzt die Besitzer um ihre Häuser und Wohnungen kümmern. Da der Zustand der Nachbarhäuser Auswirkungen auf den monetären Wert der neu in Privatbesitz übergegangenen Häuser haben konnte, erwartete man außerdem, dass die neuen Besitzer Druck auf ihre Nachbarn ausüben würden, sodass mit Müll überhäufte Grünflächen gereinigt und zerbrochene Fensterscheiben repariert würden. Wohneigentum erlangte so ein moralisches Gewicht, das weit über den Hauptzweck hinausging, Familien eine Unterkunft und Sicherheit zu bieten. Großbritannien würde ein besseres Land werden, wenn mehr Menschen eigenen Wohnraum hatten; andererseits wurde ein kleiner Teil der Verantwortung des Staates für die Gewährleistung der Sicherheit in private Hände gelegt. Um es mit ganz allgemeinen politischen Begriffen auszudrücken: Die Privatisierung der Häuser bedeutete, dass der nach dem Krieg geschlossene Vertrag über die staatliche Unterstützung und das Eingreifen des Staates zugunsten eines vom Markt getriebenen Systems aufgekündigt wurde – dass ein Gesellschaftsvertrag beendet und durch einen Markt ersetzt wurde.

Zudem erfolgte eine Übertragung des Risikos vom Staat, der Barzahlungen erhielt, auf die Hausbesitzer, die nun sehen mussten, wie sie den Wert ihres Eigentums steigern konnten. Viele – vielleicht sogar die Mehrheit – haben von einem Anstieg der Hauspreise über einen Zeitraum von 30 Jahren profitiert, der auf der starken Nachfrage nach Eigentum beruhte, zu der Margaret Thatchers Reformen angeregt hatten. Manche mussten natürlich auch leiden. Die schlechtesten Häuser waren oft in einem so desolaten Zustand, dass sie abgerissen wurden, und leerstehende Häuser wurden zur Instandsetzung zu einem Preis verkauft, der weit unter dem Marktniveau lag. In Stoke-on-Trent, einer der ärmsten britischen Städte, wurden die Häuser in manchen Straßen für ein Pfund verschleudert, weil man das Gebiet regenerieren wollte.2 Wer vor 30 Jahren Wohnraum in so einer Straße gekauft hat, befindet sich jetzt im Würgegriff eines unverkäuflichen Besitzes und muss vom Staat herausgekauft werden.

Der nächste Schritt bei diesem Ökonomisierungsprogramm erfolgte Mitte der 1990er-Jahre, als erstmals Buy-to-Let-Hypotheken aufkamen. Das Buy-to-Let war von der Association of Residential Letting Agents und einer Gruppe von Hypothekenanbietern ausgeheckt worden, um in der Flaute, die auf Margaret Thatchers Anreize für den Hausbesitz folgte, den Markt für die Vermietung von Wohnraum wiederzubeleben. Bis dahin waren Hypotheken vergeben worden, um den Kauf eines einzigen Wohnhauses zu ermöglichen, in dem der Hypothekenschuldner dann selbst wohnte. Jetzt wurden auch Hypotheken auf Häuser vergeben, in denen der Besitzer gar nicht selbst wohnen wollte. Die Buy-to-Let-Hypotheken wurden ein Riesenerfolg: Im Jahre 2006 lebten 12 Prozent der britischen Bevölkerung in Räumlichkeiten dieser Art.3

Für diejenigen, die sie aufnahmen, durchtrennte die neue Welle der Buy-to-Let-Hypotheken jede noch verbliebene Bindung zwischen dem Haus, das als Eigenheim gekauft wurde, und dem, das als Investition erworben wurde. Häuser, die vermietet werden sollen, werden notwendigerweise unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet: Die Kosten der Hypothek müssen mit den vermutlichen Mieteinnahmen verglichen werden, die natürlich von der Zimmerzahl und den vorhandenen Annehmlichkeiten abhängen werden; Verbesserungen der Substanz werden auf rein finanziellen Erwägungen beruhen – wie stark werden sie den Kapital- oder Mietwert steigern? Der Kapitalwert selbst ist dann weniger ein Maß für die Attraktivität des Hauses, sondern hängt mehr von den möglichen Mieteinnahmen ab. Die Hausbesitzer werden Vermieter; sie können immer mehr Hypotheken aufnehmen und ihr Eigenkapital – den Teil des Wertes, den sie besitzen, der nicht geliehen ist –, das sich in den Häusern angesammelt hat, die ihnen bereits gehören, auf immer mehr Häuser streuen, sodass ein wackeliges Reich von Mietshäusern entsteht. Dieser Prozess wurde durch einen blühenden Häusermarkt gefördert, den er seinerseits erheblich unterstützte. Es gab immer mehr Fernsehsendungen, die zeigten, wie man durch Pläne für eine schnelle Übernahme von Häusern reich werden konnte. Die ganz alltäglichen Gespräche waren damals voll von den aufregenden Neuigkeiten darüber, wer auf der Leiter des Hausbesitzes wie weit gekommen war. Die außergewöhnlichen Beispiele kannte jeder – wie die Geschichte der ehemaligen Mathematiklehrer aus dem Londoner Süden, die ein Portfolio von 900 Liegenschaften mit Mieteinnahmen von 1,5 Millionen Pfund aufbauten.4

Es gibt jedoch auch noch andere Auswirkungen. Die wachsende Zahl der Kreditnehmer beschert den Geldverleihern eine lukrative Gelegenheit, sodass Kredite in den Markt fließen und die verfügbare Geldmenge wächst. Mehr Kredite treiben die Preise nach oben und vergrößern so das Eigenkapital, das den Besitzern zur Verfügung steht. Durch diese Kapitalgewinne werden die Hauseigentümer gestärkt und können immer mehr Geld aufnehmen, während neue Kaufinteressenten über die Preise aus dem Markt getrieben werden und gezwungen sind zu mieten, was den Hausbesitzern saftige Einnahmen bringt. Synthetische Kredite, die von den Financial Engineers an der Wall Street zur Verfügung gestellt werden, gießen noch Öl ins Feuer, und so entsteht eine klassische Spekulationsblase, bei der es den Eigentümern sehr gut geht, den Kaufinteressenten aber schlecht. Im Grunde ist das eine Steuer, die den jungen Leuten von den alten auferlegt wird, denen, die kein Haus haben, von denen, die mindestens ein Haus besitzen. Ich bin gerade alt genug, um zu den Schuldigen zu gehören: Ich habe mir eben noch so früh ein Haus gekauft, dass ich die Welle der Blase ausnutzen konnte, die schon Ende der 1990er-Jahre nicht mehr zu retten schien; ich habe keine Ahnung, wie die, die ein paar Jahre jünger sind, jemals hinkommen werden. Denjenigen, die es schafften, sich in den Boom-Jahren Anfang dieses Jahrtausends ein Haus zu kaufen, werden ihre Schulden noch jahrelang wie ein Mühlstein am Hals hängen; in Irland, wo die Blase geradezu manisch wurde und der Wettbewerb und Vetternwirtschaft die Preise weit über jedes vernünftige Maß hinaustrieben, wurden viele für immer ruiniert.

Das Wohnen bildet eines der Hauptbeispiele in diesem Buch. Hier treffen die Politik und die Regulierung aufeinander, die neuen Pläne der Unternehmer – ob es sich nun um Makler für Vermietungen oder um Wall-Street-Banker handelt – und das Privatleben, die Pläne der Menschen, die in ihnen wohnen. Es zeigt Märkte, die das tun, was sie immer tun, ohne Kontrolle: Sie übertragen Reichtum von denen, die davon wenig haben, auf diejenigen, die bereits mehr haben. Die Thatcher-Reformen führten zu einem langsamen Übergang der Häuser aus einer bestimmten Kategorie (Eigenheime, in einem Wohngebiet, billig, oft in Staatsbesitz, die häufig unter den Aspekten ihrer Funktion und der sozialen Vorteile bei der Sicherheit und dem Wohnen betrachtet wurden) in eine andere (ein Privatbesitz, von dem Profite erwartet wurden und der unter dem Aspekt des ökonomischen Gewinns betrachtet wurde). Das Wohnen ist die sichtbare Spitze eines Leviathans: der ökonomischen Theorie des Neoliberalismus und des politischen und technischen Apparats, der mit ihr verbunden ist.

Häuser in Privatbesitz waren nur ein Element der Bemühungen von Margaret Thatcher in den 1980er-Jahren, Großbritannien zu...

 

© 2009-2024 ciando GmbH