Hirnrissig - Die 20,5 größten Neuromythen - und wie unser Gehirn wirklich tickt

Henning Beck

Hirnrissig

Die 20,5 größten Neuromythen - und wie unser Gehirn wirklich tickt

2014

272 Seiten

Format: ePUB

E-Book: €  9,99

E-Book kaufen

E-Book kaufen

ISBN: 9783446440661

 

Mythos n° 2

Wird es primitiv, denken wir mit dem Reptiliengehirn

Wofür brauchen wir überhaupt ein Gehirn? Die Frage klingt banal, doch zumindest die Populärwissenschaft hat ein paar ziemlich eingängige Antworten darauf: Wenn unser Handeln ganz besonders „primitiv“ wird, soll unser Stammhirn anspringen: Niedere Triebe, dumpfes Vor-sich-hin-Vegetieren, RTL2-Schauen, das seien seine Kernkompetenzen. Der neurobiologische Sitz unserer steinzeitmäßigen Verhaltensmuster, die sich im Wettstreit mit unserer Vernunft befänden.

Um es noch eingängiger zu machen, nennt man das Stammhirn auch gerne „Reptiliengehirn“ – ein Überbleibsel der Evolution, unverändert seit Millionen von Jahren mit der einzigen Aufgabe, unser Großhirn dabei zu stören, wenn mal was Sinnvolles gedacht werden soll: Männer beim Fußballschauen, Frauen beim Schuhekaufen (Vorsicht, Klischees! Denen widme ich in Kürze ein eigenes Kapitel.) – da hat ein vernünftiges Großhirn keine Chance, das Reptiliengehirn übernimmt das Sagen. Genauso wie bei Instinktreaktionen (Flucht oder Kampf), Macho-Gehabe oder Zickereien: Großhirn aus, Reptiliengehirn an – und schon handeln wir genauso wie unsere Vorfahren aus der Steinzeit.

Nicht alles an unserem Gehirn hat also einen guten Ruf. Das trifft auch auf das Kleinhirn zu. Wie das auch schon klingt: ein „kleines Gehirn“, das Arme. Was soll man damit schon groß anstellen können? Sein großer Bruder, das tolle Großhirn, hat hingegen den Laden im Griff und sorgt für unsere geistigen Höhenflüge. Darüber hinaus soll es noch zwei weitere „Gehirne“ geben, ein Mittelhirn und ein Zwischenhirn, die (der Name sagt es schon) irgendwo dazwischen liegen sollen.

Wenn ich richtig gezählt habe, müssten im ausgebildeten Schädel also mindestens fünf verschiedene Gehirne Platz finden. Was für ein heilloses Durcheinander! Das bietet natürlich wieder guten Nährboden für Mythen und Missverständnisse. Und da sich die nächsten Kapitel auf das Gehirn als solches beziehen, halte ich es für didaktisch geboten, eine anatomische Klärung vorauszuschicken, um in diesem Dickicht von Gehirnen den Überblick zu behalten.

Das Krokodil in unserem Kopf

Das Missverständnis fängt schon mit dem Begriff „primitiv“ an. Der hat nämlich nichts mit einem Rückfall in ein archaisches Urmenschentum zu tun, sondern ist in diesem Fall ein Begriff der Evolutionsbiologie. Primitiv bedeutet nicht „simpel“ oder „zurückgeblieben“, sondern einfach nur „zuerst da“. Bezüglich der Dinge, die sich aus diesen Ur-Formen später entwickelt haben, spricht der Wissenschaftler etwas irreführend von „Höherentwicklung“. Ein Beispiel: Das erste Handtuch zum Markieren seines Liegeplatzes am Swimmingpool ist primitiv (im Wortsinne), ein zweites Handtuch obendrauf wäre klassische Höherentwicklung (ebenfalls im Wortsinne).

Im Falle des Gehirns heißt „primitiv“ also nicht „einfach gestrickt“ oder „kümmerlich“, sondern: Ähnliche Hirnstrukturen erwartet man auch schon bei evolutionär alten Vorstufen. Reptilien gab es zum Beispiel schon lange vor den Säugetieren, und sie haben ihr Leben ebenfalls mit Gehirnen organisiert. Denn Gehirne sind praktisch und ermöglichen schnelle Körperreaktionen: Bewegung, Orientierung, Steuerung von komplexen Organen wie Herz und Lunge. In Erinnerung an diesen evolutionär „alten“ Teil in unserem Kopf, benennen halbwissende Möchtegern-Neurobiologen diesen Bereich daher nach den Reptilien und vermitteln damit ein völlig falsches Bild.

Tatsächlich nutzt man den Begriff „Reptiliengehirn“ in der seriösen Wissenschaft nämlich nur, um sich über Esoteriker und Mental-Trainer lustig zu machen. Ein anatomischer Begriff ist es nicht. Denn nein, natürlich denken wir nicht wie ein Krokodil, wenn unser „Reptiliengehirn“ aktiv ist. Was als „Reptiliengehirn“ bezeichnet wird, ist ein Sammelsurium aus verschiedenen Hirnbereichen, die nicht nur ziemlich kompliziert und unübersichtlich verschaltet sind (von wegen primitiv), sondern auch überlebenswichtige Körperfunktionen steuern. Vermeiden Sie daher auch besser den Begriff „Stammhirn“ für diesen Hirnteil, anatomisch korrekt ist nämlich Hirnstamm. Das mag nach altkluger Wortklauberei eines besserwisserischen Buchautors klingen, aber nur so wird auch verständlich, was die wirkliche Funktion dieser Struktur ist.

Der Hirn-Hausmeister: der Hirnstamm

Wenn ich bei mir zu Hause in den Keller gehe, fallen mir zwei Dinge auf: Erstens, ich muss mal wieder aufräumen. Zweitens, alle wichtigen Versorgungsleitungen für das Haus liegen hier: Stromkabel, die nach draußen führen, Sicherungskästen, Wasserrohre – alles, was im Wohnbereich stören würde. Im Gehirn ist das ganz ähnlich, denn die wichtigen Verkabelungen mit der Außenwelt liegen im Hirnstamm. Leider geht es dort auf den ersten Blick genauso unübersichtlich zu wie in meinem Keller. Dort ist es zwar nicht unaufgeräumt, sondern hochgeordnet, aber um das zu erkennen, braucht man schon ein Anatomiestudium.

Die Funktion des Hirnstamms ist dafür umso klarer: Er koppelt das Rückenmark an das restliche Gehirn. Bevor Nervenfasern aus dem Körper nämlich die Ehre erhalten, das Großhirn betreten zu dürfen, müssen sie erst mal zusammengeführt und neu verschaltet werden. So ähnlich wie bei einem Sicherungskasten bei Ihnen zu Hause sind diese Verschaltungen für die elementaren Funktionen zuständig: Atem- und Schluckreflex werden hier genauso kontrolliert wie Augenbewegungen oder Gleichgewichtsempfindungen.

Ich will daher doch sehr hoffen, dass jeder (egal wie primitiv) auch wirklich ständig mit seinem Hirnstamm „denkt“, schließlich werden einige der wichtigsten Körperfunktionen genau hier gesteuert. Sie können also gerne aus Gründen der Höherentwicklung und Kultivierung aufhören, diesen „primitiven“ Hirnteil zu nutzen. Viel Spaß dabei, denn dann sind Sie unfähig, jegliche Muskeln zu steuern, gefangen in Ihrem eigenen Körper. Keine schöne Vorstellung.

Kurz gesagt: Alles, was das Gehirn von außen an Sinnesinformationen mitbekommt oder umgekehrt als Bewegungsimpulse in den Körper schickt, muss durch den Hirnstamm hindurch – oder wird dort als schnelle Reflexantwort gleich verarbeitet.

Damit nicht genug: Neben der Haupt-Verbindungsachse zu den wichtigsten Nervenbahnen ist der Hirnstamm zuständig für die Produktion des Hirnwassers. Unser gesamtes Gehirn ist nämlich von einer wässrigen Flüssigkeit umgeben, in der es schwimmt. So ist es gut gepolstert, wenn man mal sein Haupthaar schwingt, und so kratzt es auch nicht ständig an der Schädeldecke. Die Zellen, die dieses Hirnwasser produzieren, liegen am unteren Bereich des Hirnstamms, so ist dieser nicht nur der Elektriker, sondern auch der Klempner des Gehirns, ein richtiger Hausmeister sozusagen.

Der Hirn-Blumenkohl

Vor allem ist der Hirnstamm aber eines: ein Teil des kompletten Gehirns, kein gesonderter Bereich, kein Stiel, auf dem das losgelöste Gehirn sitzt, sondern integriert in das gesamte System. Genauso wie das Mittel-, Zwischen-, Klein- und Großhirn gehört der Hirnstamm zum großen Ganzen. Wenn Sie es blumig mögen, stellen Sie sich das Gehirn vor wie einen Blumenkohl, mit vielen kleinen Ausstülpungen, die aber immer gut vernetzt sind. Sie können die verschiedenen Hirnteile (die Blumenkohl-Röschen) separat betrachten, doch das bringt Sie nicht weiter, wenn Sie das Gehirn verstehen wollen. Denn wie wir noch sehen werden, funktioniert das Gehirn immer als gesamtes Netzwerk und nicht als lose Ansammlung von Hirnmodulen. Dass man den verschiedenen Ausstülpungen (in der Embryonalentwicklung spricht man tatsächlich von „Bläschen“) unterschiedliche Namen gegeben hat und sie wie eigenständige Gehirne benennt, heißt eben nicht, dass sie auch eigenständig sind. Wir haben nur ein einziges Gehirn im Kopf – und das ist so unübersichtlich, dass man seine Anatomie leider auch sprachlich irreführend unterteilt.

Vergessen Sie also sofort das Gerede von den unterschiedlichen Gehirnen, die sich im „Wettstreit“ befinden: vernünftige Großhirnrinde gegen triebgesteuertes Stammhirn – kompletter Quatsch. Denn das Gehirn hat vor allem eins im Sinn: das Überleben bestmöglich zu organisieren. Dafür arbeiten die Hirnbereiche zusammen, teilen sich die Aufgaben auf (das sehen wir im nächsten Kapitel) und vertragen sich prima. Wo findet man das heutzutage noch?

Überhaupt: Wenn Sie von Trieben und Instinkten sprechen, sollten Sie danach nicht im Hirnstamm suchen, sondern im Zwischen- und Großhirn. Denn tatsächlich kann man kaum trennen zwischen „Trieb-“ und „Vernunftregionen“, oftmals sind es dieselben Hirnbereiche, die sowohl bei rationalen Handlungen wie bei triebgesteuertem Verhalten aktiv sind.

Das zentrale Sekretariat: das Zwischenhirn

Während das Mittelhirn seinem Namen keine Ehre macht (es liegt als bloße Umschaltstelle im Hirnstamm), erfüllt das Zwischenhirn die Erwartungen: Es liegt zwischen den Großhirnhälften direkt oberhalb (kopfseitig) des Hirnstamms. Dort muss es auch sein, denn im Zwischenhirn werden alle Sinneseindrücke gefiltert und entschieden, was davon überhaupt ins Großhirn kommen darf. Wie in einem Sekretariat, das alle Anfragen erst mal sichtet und nur bei Bedarf ins Chef-Büro weiterleitet. Das ist auch der Grund, weshalb wir viele Sinnesinformationen gar nicht bewusst verarbeiten.

Ein Beispiel: Haben Sie gerade Schuhe an? Vermutlich haben Sie sich darüber bis eben keine Gedanken gemacht, weil das Zwischenhirn diese Information für zu unwichtig hielt, um sie ans Großhirn ins Bewusstsein zu...

 

© 2009-2024 ciando GmbH