Bund fürs Leben - Warum Bakterien unsere Freunde sind

Hanno Charisius, Richard Friebe

Bund fürs Leben

Warum Bakterien unsere Freunde sind

2014

319 Seiten

Format: ePUB

E-Book: €  11,99

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ISBN: 9783446439283

 

1SUPERORGANISMUS MENSCH


Mit jeder Geburt beginnt sich eine Lebensgemeinschaft zu formieren aus einem Menschen und hundert Billionen Bakterien. Zusammen bilden sie eine Allianz fürs Leben.

Ein lang anhaltender Schrei. Ihn in seinem Wesen zu beschreiben, ihn nachfühlbar zu machen, wäre nicht einmal Hemingway oder Saint-Exupéry gelungen, selbst Murakami würde daran scheitern. Alles, was man sagen kann, ist: Er geht durch Mark und Bein. Der Mann, der ihn aus nächster Nähe hört, ist einigermaßen hilflos, tupft seiner Freundin mit einem Stück strahlend weißer Baumwolle die Stirn, hält mit der anderen Hand ihre Hand, sucht ihre Augen und dann fragend die der Hebamme. Seine Freundin fixiert mit weit aufgerissenen Augen einen Punkt im Nirgendwo irgendwo dort, wo die Wand und die Decke des Kreißsaals weiß und cremefarben zusammentreffen.

Kurze Entspannung. Dann folgt schon der nächste Krampf, der nächste Schmerz, der nächste laute, hell-gläserne, markerschütternde Schrei. Der Muttermund ist schon weit geöffnet, das Köpfchen schon sichtbar. Die Hebamme verlangt nachdrücklich von der Frau, zu pressen, pressen, pressen, ja, ja, ja, ja … Dann geht alles ganz schnell, das Köpfchen rutscht durch, die Hebamme hilft der Frau mit geübten Ansagen und Griffen, auch den Rest des kleinen Körpers aus dem ihren herauszubringen. Der erste Schrei des gerade zum Baby gewordenen Fötus. Abnabeln. Abtrocknen. Dem Kind geht es gut, es kann sofort zur Mutter. Es wird ruhig, dem Vater fließen die Tränen. Die Augen der Mutter schauen schräg nach unten auf den kleinen Kopf, funkelnd. Glückwünsche.

Wer einmal bei einer normalen, erfolgreichen Geburt dabei war, als Praktikant im Krankenhaus zum Beispiel wie einer der beiden Autoren dieses Buches, wird diese Momente nie vergessen. Beteiligte Väter und Mütter natürlich auch nicht, auch wenn manche berichten, sich eher nicht so genau erinnern zu können wegen all der Aufregung und der beteiligten Stresshormone.

Es ist laut im Kreißsaal, es wird auf Hygiene geachtet, ein neues Leben kommt offiziell an auf Erden.

Gleichzeitig passiert aber noch etwas anderes. Geräuschlos. Unhygienisch. Sehr inoffiziell. Aber auch sehr lebendig.

Wer einmal bei einer Geburt dabei war, wird sich auch daran erinnern: Sie ist bei aller Sauberkeit, die im Kreißsaal herrscht, bei aller strahlend weißen Baumwolle, bei aller Klinikatmosphäre doch kein klinisch reiner Vorgang. Das Baby muss sich durch die Scheide der Mutter hindurcharbeiten. Die ist bekanntermaßen voll mit allen möglichen Mikroorganismen, meist sind es zu großen Teilen Milchsäurebakterien. Bei dem Druck, der im Unterbauch herrscht, fließt meist auch etwas vom Darminhalt aus dem sehr nahen Anus nach außen und gerät in den Bereich, wo das Baby durchmuss. Und der Enddarm ist einer der mikrobenreichsten Lebensräume, den Planet Erde zu bieten hat. Das Kind wird mit all dem überzogen, es schluckt davon, in der Pofalte setzt sich etwas davon ab und gerät in den kleinen Enddarm, unter die kleinen Fingernägel schiebt sich auch etwas. Mit dem Kind wird auch ein neuer Wirt für unzählige verschiedene Mikroben geboren, die auch durch das erste Abreiben und Abtrocknen nur zum Teil wieder weggewischt werden und sich bald zu vermehren beginnen. Wenn die Mutter das Neugeborene in den Arm nimmt, kommen Bakterien von ihrer Haut dazu, wenn sie es zum ersten Mal stillt, noch mehr von den Brustwarzen durch den Mund. Und wer das alles eklig, unhygienisch, gefährlich, therapiebedürftig findet, liegt in fast allen Fällen ziemlich falsch.

Happy Birthday, Bakterien


Der Geburtstag, der allererste oder nullte, wie immer man ihn nennen will, ist nicht nur der Beginn eines hoffentlich langen und einigermaßen gesunden und glücklichen Lebens. Er ist auch der Tag der Geburt einer Lebensgemeinschaft, der Beginn eines Bundes, der sich erst nach dem Tod wieder auflöst. Es ist eine stille, unbemerkte Selbstverständlichkeit. Es beginnt eine Beziehung, die am Anfang sehr dynamisch und voller Veränderungen ist, gefolgt von einer Stabilisierung der Verhältnisse, in der sich Mensch und Mikroben aufeinander eingestellt haben und ihre Gegenseitigkeit zum gegenseitigen Vorteil leben. Zwar kann sich im Leben, mit dem Älterwerden oder durch eine Veränderung der Lebensverhältnisse oder auch der Ernährung immer wieder ein wenig ändern in der WG Mensch, doch mit den meisten unserer Partner bleiben wir für immer zusammen.

Das Mikrobiom – so wird die Gesamtheit der in und auf einem Menschen lebenden Mikroorganismen genannt – und sein Gastgeber, sie sind idealerweise von Anfang an und bis zum Schluss Freunde. Fürs Leben.

Den Ausdruck »Mikrobiom« soll der große, mit einem Nobelpreis ausgezeichnete Bakterienforscher und Molekularbiologe Joshua Lederberg (1925 – 2008) um das Jahr 2000 herum erfunden haben. So schreibt es zumindest der heute gerne als großer Mikrobiomforscher bezeichnete Jeffrey Gordon in einem seiner Fachartikel.4 Praktisch zeitgleich mit der ersten Entzifferung eines menschlichen Genoms bekam also jenes »zweite Genom«, bestehend aus Millionen weitgehend noch unerforschten Mikroben-Genen, gerade erst seinen Namen. Es hat allerdings nicht nur einen. Ein Bakterienkollektiv wird auch als Mikrobiota bezeichnet oder, etwas altmodisch, dafür aber poetisch, als Darmflora, obgleich dort ja eher keine Pflanzen wachsen.

Dass Bakterien, aber auch viele Pilze und sogar Viren, nicht nur nutznießende, nicht wegzukriegende Trittbrettfahrer unseres Lebens sind, nicht nur Mitesser und 37-Grad-Heizungsschmarotzer, sondern dass sie hie und da auch ganz nützlich sein können, diese Erkenntnis hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nur langsam ihren Weg gebahnt. Dass sie mehr als nur ganz nützlich sind, sondern maßgeblich über Wohl und Weh’ eines Menschen, über Krankheit und Gesundheit, ja Leben und Tod mitentscheiden, das stellt sich erst seit wenigen Jahren heraus.

Wir leben wie selbstverständlich mit unseren geschätzt hundert Billionen Mikroben, die insgesamt deutlich mehr als tausend Arten angehören, zusammen.

Und wie so häufig im Leben merkt man erst, wie wichtig etwas Selbstverständliches, immer Präsentes ist, wenn es fehlt oder nicht mehr richtig funktioniert. So ganz ohne unsere Bakterien hätten wir ziemliche Probleme, wir könnten normale, abwechslungsreiche Nahrung nicht mehr ordentlich verdauen, unsere Haut würde ihre effektive Schutzfunktion einbüßen, wir wären ein offenes Scheunentor für alle möglichen anderen Mikroorganismen, inklusive gefährlicher Krankheitserreger.

Wer zum Beispiel von bösen Streptokokken verschont bleiben will, dem gelingt das am ehesten, wenn er gute Streptokokken hat. Denn die verweigern ihren Krankheiten auslösenden Verwandten ziemlich effektiv den Zutritt. Es ist wie in jedem gut funktionierenden Ökosystem: Wenn eine ökologische Nische besetzt ist, ist es für Neuankömmlinge, wenn sie nicht durch irgendetwas ihren direkten, etablierten Konkurrenten deutlich überlegen sind, sehr, sehr schwierig, sich durchzusetzen.

Das biologische Wir entscheidet


Wir bilden uns als Menschen viel auf unsere Individualität ein. Jeder ist etwas ganz Besonderes, Einzigartiges. Jeder und jede hat seine oder ihre Alleinstellungsmerkmale – Charaktereigenschaften, Talente, Fähigkeiten, diesen unverwechselbaren Blick, die Stimme, die Gene. Doch bei aller Individualität – allein stehen wir nicht im Leben, nicht einmal der mürrische Einsiedler auf Neufundland lebt ohne Gesellschaft, auch in und auf und an ihm sind all die Mikroorganismen an- und eingesiedelt.

Und nicht nur das: Wir sind mit all dem Winzlingsleben so aufs Engste verknüpft, tauschen uns mit ihm so intim aus, dass es kaum mehr möglich ist, hier die berühmte psychologisch-soziologisch-anthropologische Linie zwischen dem Selbst und dem oder den »Anderen« zu ziehen. Die Bakterien auf unserer Haut haben Schutzfunktionen, die denen der Hautzellen selbst in nichts nachstehen. Bakterien im Darm schließen Nahrung teilweise effektiver für uns auf als unsere eigenen Enzyme, Bakterien in der Scheide einer Frau sind für die erfolgreiche Fortpflanzung vielleicht nicht ganz so wichtig wie Spermien- und Eizellen, aber sie leisten ihren Beitrag, ganz zu schweigen von ihrer Bedeutung bei der Abwehr von weiblichen Harnwegsinfektionen.

Jeder Mensch ist also im Grunde das, was Soziobiologen einen »Superorganismus« nennen: eine Gemeinschaft von vielen einzelnen Lebewesen, jedes davon mit einer gewissen Individualität, jedes im eigenen Interesse vor sich hin arbeitend und letztlich doch im ständigen Austausch, in ständiger Kommunikation und gegenseitiger Kontrolle ein großes Ganzes nährend und einigermaßen stabil haltend. Dieses große Ganze heißt dann Cindy aus Marzahn, Michael aus Kerpen oder Herbert aus Bochum. Gut sieben Milliarden solcher Superorganismen der Kategorie Mensch gibt es derzeit, dazu kommen all die anderen Tierarten. Auch sie sind, soweit bekannt, allesamt unsteril und voller Mikrobenleben. Dazu kommen wohl auch so ziemlich alle Pflanzen, auf deren Blättern, an deren Wurzeln, Rinde und Früchten die mikroskopisch kleinen Nützlinge und Unschädlinge regieren. Sogar der Terroir, der spezifische Geschmack eines Weines von einer bestimmten Lage, soll Mikroben auf den Trauben geschuldet sein.5

Biologen haben für Organismen, bei denen sich irgendwann herausstellte, dass sie eigentlich enge, symbiotisch kooperierende Gemeinschaften...

 

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