Rheines Wasser - 1231 Kilometer mit dem Strom

Andreas Fath

Rheines Wasser

1231 Kilometer mit dem Strom

2016

224 Seiten

Format: ePUB

E-Book: €  6,99

E-Book kaufen

E-Book kaufen

ISBN: 9783446449930

 

1. DIE GEBURT EINER IDEE


Es war ein warmer sommerlicher Abend im Juni 2013, meine Söhne hatten die Biertische in den Garten getragen, ich grillte Steaks und Würstchen, meine Frau kümmerte sich um die gesunden Zutaten, und wir aßen draußen zu Abend. Als später unser Untermieter und kurz danach auch der Nachbarssohn, beide um die 23 Jahre alt, auftauchten und wir sie zu einem Bier einluden, saßen wir alle gemeinsam um das Grillfeuer, das wir durch Holzauflegen in ein Lagerfeuer verwandelten.

Erst der vorwurfsvolle Blick meiner Frau teilte mir unmissverständlich mit, dass ich mich einige Zeit nicht an der Konversation beteiligt hatte und das als Desinteresse an den jungen Studenten interpretiert werden konnte.

Und tatsächlich: Ich war mit den Gedanken woanders. Der Wortlaut eines am Vormittag erhaltenen Briefes spukte mir noch im Kopf herum: »Sie haben einen Antrag im Programm des Ministeriums für Wissenschaft und Kultur ›Verbesserung der Geräteausstattung‹ gestellt, doch ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Antrag nicht zur Förderung kommen wird. … Dass Ihr Antrag bei denen, die zur Förderung empfohlen wurden, nicht dabei war, hat nichts mit einer Abwertung Ihrer Forschungsleistungen zu tun, sondern beruht einerseits auf den beschränkten Mitteln, andererseits darauf, dass anderen Anträgen größere Priorität eingeräumt wurde.« Mein Antrag hatte einem Analysegerät gegolten, mit dem man bei der Abwasserreinigung einen Vorher-Nachher-Vergleich durchführen und herausfinden kann, ob der Abbau einer Substanz, beispielsweise eines Antibiotikums, zu 95 oder zu 100 Prozent funktioniert hat. Das hört sich nach einem kleinen Unterschied an, bedeutet für den Schutz unserer Gewässer aber die Welt.

Dies war nun schon die zweite Absage, seit ich die Professur an der Hochschule Furtwangen im Oktober 2011 angenommen hatte. Im Leistungssport habe ich gelernt, mit Niederlagen umzugehen, und im Nachhinein hat sich das spanische Sprichwort »No hay mal que por bien no venga« (Alles Schlechte hat immer auch etwas Gutes) immer bewahrheitet. Es gibt kein Negativerlebnis, aus dem man nicht etwas Positives schöpfen könnte. Bevor sich diese Erkenntnis bei mir durchsetzt, werden aber meist drei Phasen durchlaufen: Am Anfang steht die Frustrationsphase. Es dauert etwa ein bis zwei Tage, bis sich meine Enttäuschung mit allem »wenn und aber« und »hätt ich doch« wieder legt.

Es folgt die Grübelphase, die – alle Umstände ignorierend – von mir Besitz ergreift, sogar während eines Grillabends. Es musste eine andere Möglichkeit geben, um meine Forschungsthemen mit dem notwendigen Equipment und Personal voranzutreiben, außer nochmals bis zur nächsten Ausschreibung einer Forschungsförderung zu warten, die wieder nur eine Erfolgsquote von 20 bis 30 Prozent verspricht. Ohne wieder zig Abende mit dem Schreiben von Anträgen zu verbringen. Schließlich war es nicht nur die Lehre, sondern auch die Möglichkeit, zu forschen, gewesen, die mich zu einem Wechsel an die Hochschule motiviert hatten.

Der Blick meiner Frau riss mich nicht nur aus meinen Gedanken, er ließ mich auch in die dritte Phase eintreten – die Phase, in der man einen Ausweg aus dem Dilemma findet, und sei er noch so verrückt. Denn urplötzlich hatte ich das Abenteuer vor Augen, das ich bestehen musste, um für meine Forschung zu werben und für den Gewässerschutz zu sensibilisieren. Die Idee, den Rhein in seiner vollen Länge von 1231 Kilometern, von seiner Quelle im Tomasee bis zu seiner Mündung in die Nordsee bei Hoek van Holland, zu durchschwimmen und ihn dabei zu beproben, war geboren.

Die Lösung liegt im Nachhinein betrachtet auf der Hand: Ich musste einfach nur meine drei Lieblingsthemen, Wasser, Chemie und Schwimmen, in einen sinnvollen Zusammenhang bringen.

In der gleichen Nacht war aufgrund der explodierenden Gedanken und des hohen Pulses an Schlaf nicht zu denken. Mir war klar, dass Organisation, Sponsorensuche, Training, Familie, Lehre und Beratertätigkeit unter einen Hut zu bringen waren und dass die eigentliche Schwimmphase nur in der vorlesungsfreien Zeit machbar war. Obwohl ich damals liebend gern noch im Sommer 2013 gestartet wäre, dauerte es ein Jahr, bis alle Vorbereitungen und Planungen abgeschlossen waren. Immer wieder stand das Vorhaben in dieser Zeit auf der Kippe. Weil die Sicherung der Finanzierung durch Sponsoren viel mehr Zeit in Anspruch nahm, als wir erwartet hatten. Weil gleich in vier Ländern behördliche Genehmigungen einzuholen und Auflagen zu erfüllen waren. Weil wir Wissenschafts- und Industriepartner, deren Unterstützung für die umfassenden Wasseranalysen vonnöten war, von der Sinnhaftigkeit und Machbarkeit unseres Abenteuers überzeugen mussten. Weil wir lange Zeit kein Motorboot mit der vorgeschriebenen Ausstattung zur Verfügung hatten. Und weil uns jemand fehlte, der willens und in der Lage war, das Boot fast vier Wochen lang vom Bodensee bis zur Nordsee zu schippern. Bis uns mein Hochschulkollege Bernhard Vondenbusch, der über die notwendigen Bootsführerscheine verfügte, mit seiner Zusage erlöste.

Die nötige Geduld und Energie aufzubringen war nur möglich, weil ich von Anbeginn die Rückendeckung meiner Familie und meines Arbeitgebers, der Hochschule Furtwangen, hatte. Und weil ich nicht nur dadurch motiviert war, meine Forschung und die wissenschaftliche Arbeit der Hochschule voranzubringen. Sondern auch durch meine über lange Jahre gewachsene Leidenschaft für das Wasser, die sich aus verschiedenen Quellen speist: Im Wasser lernte ich meine Ängste überwinden – und meine Frau kennen. Wenn es also etwas gab, für das ich im Wortsinn mein letztes Hemd geben würde, dann den Stoff, ohne den kein Leben existieren würde. Wie schon Thales von Milet vor circa 2600 Jahren erkannte. Der Mensch besteht zu drei Vierteln aus Wasser. Dass Wasser alles ist und alles ins Wasser zurückkehrt, wissen wir zwar, aber richtig verstanden haben wir es nicht, denn wir handeln vielfach ganz und gar nicht danach.

Unsere Trinkwassermenge wird immer kleiner, obwohl es eigentlich genug Wasser auf unserem blauen Planeten gibt. Mehr als zwei Drittel unseres Planeten, nämlich 71 Prozent der Erdoberfläche, sind mit Wasser bedeckt. Der mit 92,2 Prozent weitaus größte Anteil entfällt jedoch auf die Ozeane, ist damit Salzwasser und für den Menschen ungenießbar. 4 Prozent befinden sich als Wasserdampf in der Atmosphäre. Von den 3,5 Prozent des Wassers, das als Süßwasser vorliegt und damit theoretisch von den Menschen als Trinkwasser genutzt werden könnte, ist mehr als die Hälfte in Form von Eis gefangen – vor allem an den Polen, aber auch in Gletschern und Permafrostböden. Lediglich 0,6 Prozent der auf der Erde vorhandenen Wassermenge ist Süßwasser, das sich in Flüssen, Seen und dem Grundwasser befindet. Auf das Grundwasser als häufigste und sauberste Trinkwasserquelle entfallen dabei nur 0,02 Prozent der Gesamtwassermenge. Dieses wertvolle Wasser ist auf der Welt nicht gleich verteilt und erneuert sich infolge unseres hohen, immer noch wachsenden Wasserkonsums nicht schnell genug.

Dem Wasser kommt eine hohe kulturelle, ökologische und ökonomische Bedeutung zu. Mehr noch: Ohne Wasser wäre Leben, so wie wir es kennen, auf der Erde nicht möglich. Trotzdem gehen wir in den westlichen Industrieländern, aber auch in den aufstrebenden Nationen in Asien und Südamerika viel zu sorglos mit Wasser um. Zum einen wird zu viel sauberes Wasser verbraucht und mit unterschiedlichsten Schadstoffen belastet, zum anderen mangelt es in vielen Ländern an sauberem Wasser. Kriege werden in der Zukunft nicht um Öl, sondern um das lebensnotwendige H2O geführt werden.

Heute fließen 70 Prozent des gesamten Süßwassers in die Landwirtschaft, 20 Prozent in die Industrie und 10 Prozent in private Haushalte. Im Zuge des globalen Bevölkerungswachstums wird sich der Wasserverbrauch weiter erhöhen. Während zu Beginn unserer Zeitrechnung nur 300 Millionen Menschen lebten und sauberes Trinkwasser benötigten, sind es heute sieben Milliarden, die sich den kostbaren Rohstoff Süßwasser teilen müssen. Der Bedarf nimmt kontinuierlich zu, während unsere Süßwasserdepots durch abschmelzende Pole und Gletscher schrumpfen.

Da liegt es natürlich nahe, das größte Wasserreservoir der Erde anzuzapfen. Dazu müssten die Meere »nur« entsalzt werden. Die erste Meerwasserentsalzungsanlage der Menschheitsgeschichte ist aus der Antike überliefert. Der griechische Philosoph und Wissenschaftler Aristoteles, der von 384 bis 322 vor Christus lebte, ließ ein mit einer Harzmembran präpariertes, dicht verschlossenes Tongefäß rund 500 Meter tief ins Meer hinab. In dieser Tiefe ist der Wasserdruck etwa 50 Mal so stark wie an der Oberfläche. Zieht man das Gefäß nach etwa 24 Stunden wieder an die Oberfläche, befindet sich darin Süßwasser. Durch solch hohe Drücke lässt sich die Osmose umkehren. Osmose ist ein Verfahren, bei dem Wasser mit wenigen gelösten Teilchen durch eine halbdurchlässige Membran in eine höher konzentrierte Lösung wandert, um den Konzentrationsunterschied auszugleichen. Das passiert so lange, bis die Konzentrationen auf beiden Seiten der Membran ausgeglichen sind. Aus diesem Grund trocknet jede Zelle aus und der Körper dehydriert, wenn man Salzwasser trinkt. Oder die Zellen platzen, wenn man destilliertes Wasser zu sich nimmt. Mit Umkehrosmoseverfahren wird Salzwasser durch eine semipermeable Membran gepresst, wobei das Kochsalz im Konzentrat zurückbleibt und auf der anderen Seite entsalztes Wasser gewonnen wird. Auch mit thermischen Verfahren lässt sich Salzwasser entsalzen. Entweder durch Verdampfen und Kondensieren der Flüssigkeit; oder indem man das Wasser ausfriert, abtrennt und wieder schmilzt. Mit einer Elektrodialyse, bei...

 

© 2009-2024 ciando GmbH