Wenn der Nagekäfer zweimal klopft - Das geheime Leben der Insekten

Dave Goulson

Wenn der Nagekäfer zweimal klopft

Das geheime Leben der Insekten

2016

320 Seiten

Format: ePUB

E-Book: €  11,99

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ISBN: 9783446447080

 

Ein Wiesenspaziergang

24. April 2007. Morgendliche Laufzeit: 9,5 Kilometer in 42 Minuten 2 Sekunden. Wie immer hier in Frankreich auf dem Land begegnete ich keiner Menschenseele; dafür bellten mich fünf Hunde an; sie sind Jogger nicht gewohnt. Ein schöner kühler Morgen, klarer blauer Himmel, das Gras mit dicken Tautropfen bedeckt, die Wallhecken voller Schlüsselblumen. Zahl der gesichteten Schmetterlingsspezies: sechs – ich lenkte mich von den Schmerzen beim Laufen dadurch ab, dass ich Arten bestimmte, ohne stehenzubleiben. Das Gleiche habe ich auch schon mit Hummeln probiert, aber die sind beim Laufen schwieriger zu identifizieren. Zur heutigen Schmetterlingsausbeute gehörten ein Faulbaum-Bläuling und ein männlicher Zitronenfalter, dessen schwefelgelbe Flügel in der Sonne leuchteten. Auch ein Grünspechtpärchen scheuchte ich auf, das auf dem Weg am obersten Feld entlang mit Einemsen beschäftigt war, zweifelsfrei zu erkennen am aufgeregten Glük-Glük-Glük und dem wellenförmigen Flug. In jedem Gehölz, das ich passierte, zwitscherten Zaungrasmücken, ein melodisch dahinströmender Gesang. Die Paarungszeit ist voll im Gange – auch jetzt, während ich auf der Gartenbank neben der Haustür sitze und Schweiß auf meine Notizen tropft, höre ich das Gezwitscher immer noch aus allen Richtungen.

65 Kilometer nordwestlich von Limoges, in der Nähe des hübschen romanischen Örtchens Confolens an der Vienne, steht ein altes Bauernhaus. Etwa in der Mitte einer gedachten Nord-Süd-Linie und etwa 110 Kilometer von der Westküste entfernt zum Landesinneren hin, liegt das Gehöft in der Charente, einem großen, verschlafenen Département mit Eichenwäldern, rostroten Limousin-Rindern und Sonnenblumenfeldern – eine hügelige Landschaft, durch die träge der Fluss Charente mäandert. Das Haus wurde vor ungefähr 160 Jahren erbaut, wohl von einem gewissen Monsieur Nauche, der dem Anwesen auch seinen Namen gab, Chez Nauche. In dieser Region gibt es viele prächtige Bauernhäuser aus behauenem Naturstein, mit drei oder mehr Stockwerken und hohen, symmetrisch zu beiden Seiten eines imposanten Haupteingangs angeordneten Fensterreihen. Chez Nauche gehört nicht dazu. Seine dicken Mauern bestehen aus unbearbeitetem Kalkstein, ungleich großen Felsbrocken voller Fossilien, die man wohl aus den umliegenden Feldern ausgegraben hat. Statt mit Mörtel sind die Steine mit orangefarbenem Lehm verfugt, der gleichfalls dem hiesigen Boden entstammt. Die Wände haben sich über die Jahre verschoben und neigen sich einander in abenteuerlichen Winkeln zu. Die meist kleinen, in unregelmäßigen Abständen eingelassenen Fenster besitzen Laibungen aus verwitterten Eichenbalken; alte Holzläden, von denen die Farbe abgeblättert ist, hängen lose in den Angeln. Das langgestreckte, nach Süden ausgerichtete Haus ist niedrig und gedrungen; es wurde so entworfen, dass sich alle Wohnräume im Erdgeschoss befanden, was dem Grundriss der meisten einfachen Bauernhäuser hier in der Gegend entspricht. Der riesige Dachboden diente zur Aufbewahrung von Heu, das gleichzeitig isolierende Wirkung besaß und die Bewohner im Winter vor Kälte schützte. Die Decken zwischen Wohnbereich und Heuboden bestehen aus dicken Planken, die auf massiven quadratischen Balken ruhen. Das Holz stammte vorwiegend von den Eichen der Umgebung, von Hand zugesägt, und tatsächlich kann man an den Balken auch heute noch die Sägespuren erkennen. Es muss eine Herkulesaufgabe gewesen sein, ein solches Haus zu bauen, auch wenn dadurch so gut wie keine Materialkosten anfielen.

Die Herstellung von Eichenbalken lief folgendermaßen ab: Man suchte in der Nähe einen möglichst ebenmäßig gewachsenen Baum und fällte ihn. Dann hob man unter dem Stamm eine Grube aus, tief genug, dass ein Mann darin liegen konnte, und zersägte den Stamm mithilfe einer riesigen Zweimannsäge in Vierkantbalken; dabei lag einer der Männer in der Grube und bekam den ganzen Sägestaub ins Gesicht, während der andere auf dem Baumstamm stand. Am Ende schleppte ein Pferd den fertigen Balken zum Haus, wo man ihn mithilfe von Seilen emporwand und in die richtige Position wuchtete.

Auch die Terrakotta-Dachziegel wurden aus Lehm gebrannt, der aus dem Umland stammte. Ihr typisches Aussehen geht auf die Römer zurück. Sie werden auch Klosterziegel genannt und abwechselnd in Reihen konvexer (»Mönche«) und konkaver Dachziegel (»Nonnen«) verlegt. Monsieur Nauche hat sie aber wohl kaum selbst gebrannt, sondern in einer Ziegelbrennerei gekauft. So zählen diese Ziegel zwar zu den wenigen größeren Anschaffungen, die er tätigen musste, stammten aber immerhin aus einem Betrieb in der Nähe. Ansonsten wurden das ganze Gebäude und die angrenzenden Scheunen aus Materialien erbaut, die sich kostenlos vor Ort gewinnen ließen, was den Gebäuden ein natürliches, organisches Flair verleiht, fast so, als seien sie aus dem Boden geschossen wie seltsame rechteckige Pilze.

Ich habe Chez Nauche im Jahr 2003 gekauft, von einem alten Bauern namens Monsieur Poupard. Wenn ich ihn mit meinen dürftigen Französischkenntnissen richtig verstanden habe, hat er dort sein ganzes Leben verbracht, Milchkühe gehalten und Landwirtschaft betrieben. Weit über sechzig Jahre alt und ohne Kinder, denen er das Gehöft hätte hinterlassen können, beschloss er, es zu verkaufen und in den Ruhestand zu gehen. Da er sich nie wirklich um das Anwesen gekümmert hatte, war es ziemlich zerfallen. Das Dach leckte, die Holzbalken rotteten vor sich hin, die alte Tünche hatte schwarze Schimmelflecken und schälte sich von den Wänden. Die Fensterrahmen waren verfault, die geborstenen Glasscheiben mit alten Plastikplanen bedeckt und die modrigen Stellen unten an der Haustür mit plattgehämmerten Konservendosen vernagelt. Die sanitären Einrichtungen beschränkten sich auf einen alten, tropfenden Wasserhahn über einem steinernen Ausguss – es gab weder Bad noch Dusche, und die Toilette bestand aus einem Eimer im Schuppen.

Obwohl das Ganze also, gelinde gesagt, renovierungsbedürftig war, besaß es für mich, den von der Tierwelt faszinierten Biologen, trotz aller Mängel eine enorme Anziehungskraft. Durch Monsieur Poupards Nachlässigkeit wimmelten das Haus und die angrenzenden Gebäude von Leben. Viele stolze Hausbesitzer im heutigen Großbritannien reagieren entsetzt, wenn sie eine Assel auf dem Teppich oder eine Ameise in der Küche entdecken. Von dieser Furcht sollte man sich in Chez Nauche schleunigst verabschieden, sonst ist ein Nervenzusammenbruch vorprogrammiert. Das Haus ist über die Jahrzehnte praktisch mit seiner Umgebung verschmolzen. Und obwohl ich in den zehn Jahren seit dem Kauf einiges instand gesetzt habe, ist das Haus auch heute noch ein Zufluchtsort für unzählige Pflanzen und Tiere – die Dachziegel sind mit orangefarbenen, schwarzen und cremefarbenen Flechten überkrustet, auf denen Raupen weiden. In den Rinnen zwischen den Ziegeln wächst Moos, vor allem auf der Nordseite des Hauses, und in den feuchten grünen Kissen wuseln zahllose Tausendfüßler, Asseln, Bärtierchen1 und andere kleine Insekten herum. Auch die Mauern sind mit Flechten überwuchert und vom üppigen Laub wilden Weins bedeckt, der sich an einem rostigen Spalier emporrankt. Wenn die Sonne scheint, was hier oft der Fall ist, wärmen sich dort gern Schmetterlinge, Hummeln, Bienen und Fliegen auf, bevor sie sich auf Partner- oder Nektarsuche begeben. Diese Insekten werden von schwarz-weiß gestreiften Springspinnen und braun-grün gefleckten Eidechsen gejagt, flinken Tieren mit langen, klauenbewehrten Zehen, die in unglaublichem Tempo senkrecht an den Wänden emporflitzen und beim geringsten Zeichen von Gefahr blitzschnell in Löchern im weichen Lehmmörtel verschwinden. Die meisten Fluginsekten sind zu schnell, um sich fangen zu lassen, vor allem, wenn es ihnen gelingt, warm und startklar zu bleiben. Doch wenn sie sich dann in der Luft befinden, werden sie zur leichten Beute der Schwalben, die in den Scheunen nisten und in geringer Höhe an den Gebäuden entlangsegeln. Vor dem Haus sprießen alte Lavendelbüsche, deren verdrehte, verholzte Stängel sich unter dem Gewicht purpurner Blüten neigen. Es umtanzen sie Hummeln, Schmetterlinge und, mit schwirrenden Flügeln, Taubenschwänzchen, die ihre langen gekrümmten Rüssel in die Nektarien der Blumen tauchen.

Ein alter gepflasterter Pfad führt zur Eingangstür. In den Ritzen zwischen den warmen Steinen wohnen die kugelköpfigen Feldgrillen, unablässig hört man den fröhlichen Lockgesang der Männchen. Auch Eidechsen und junge gelbgrüne Zornnattern nutzen die Spalten, um dort Käfer und Spinnen zu jagen. Vor dem Haus stehen ein paar uralte, knorrig-gebeugte Nektarinen- und Pflaumenbäume, von deren Blättern sich die dicken grünen Raupen des seltenen Schwalbenschwanzes ernähren. Auf manchen Ästen wachsen Baumpilze. Grüne Laubheuschrecken thronen auf den Zweigen, von wo aus die Männchen versuchen, mit ihrem endlosen rauen Gesäge den Gesang der Grillen zu übertönen.

Im kühlen Dunkel des Hauses, wo das Zirpen der Grillen nur noch als fernes Summen zu vernehmen ist, wimmelt es von dämmerungsaktiven Lebewesen, darunter zahllose Spinnenarten. Spindeldürre Weberknechte spinnen nachlässig bizarre Netze zwischen den alten Balken, von denen sie kopfüber herabhängen, während riesige Hauswinkelspinnen, Tegenaria domestica, dichte trichterförmige Gespinste weben, die in tiefe Wohnhöhlen führen, ideale Verstecke. Die Holzbalken ihrerseits sind mit Tunneln durchzogen, angelegt von den fetten weißen Larven der solitären Langhornbiene und des Gescheckten Nagekäfers, oder auch von Holzwürmern, die in Wirklichkeit gar keine Würmer, sondern winzige...

 

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