Die mp3-Story - Eine deutsche Erfolgsgeschichte

Franz Miller

Die mp3-Story

Eine deutsche Erfolgsgeschichte

2015

480 Seiten

Format: ePUB

E-Book: €  7,99

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ISBN: 9783446444720

 

EINFÜHRUNG: MUSIK – VORREITER DER DIGITALEN REVOLUTION


mp3 – ein Musikformat wird zum »kulturellen Phänomen«


»mp3? Ist das nicht der Musikplayer?«, wird meistens gefragt, wenn die Rede auf mp3 kommt. Einige sprechen ganz kundig vom »mp3-Format«, weil sie dieses Datenformat nutzen, um Musik auf ihre Mobilplayer zu überspielen. Doch kaum jemand weiß, dass mp3 ein Audiostandard ist, der in Erlangen erfunden wurde. Und noch weniger haben eine Vorstellung, wie die Datenkompression funktioniert. Dabei wird mp3 heute weltweit genutzt und steckt in Milliarden von Elektrogeräten, in CD-Playern, Computern, Laptops, Tablets, Handys. »Die mp3-Software … ist heute in mehr als 7 Milliarden Smartphones, iPods, PCs und Fernsehern im Einsatz. Das sind so viele Geräte, wie es Menschen auf der Welt gibt«1, berichtet das Wirtschaftsmagazin Capital im Sommer 2014. Populär wurde das Audioformat durch kleine, tragbare Musikplayer wie dem iPod. Die praktischen mp3-Player haben Musikhören überall und jederzeit möglich gemacht. Doch nicht nur das. Sie haben einen Trend kreiert, der immer mehr Menschen erfasst. Umfragen besagen, dass inzwischen neun von zehn Deutschen unterwegs Musik hören.2 Wer morgens in die U-Bahn einsteigt, sieht dort viele Menschen mit Stöpseln in den Ohren. Manche tragen auch mächtige Kopfhörer. Vor allem junge Menschen nutzen jede Gelegenheit, um sich mit den schicken kleinen Elektrogeräten die Zeit zu vertreiben.

Möglich geworden ist dieser komfortable Musikgenuss durch digitale Audiotechnologie und moderne Mikroelektronik. mp3 ist das Audioformat, das der Revolution der digitalen Musik den Namen gab. Es war das erste und technisch beste Format, das trotz enormer Reduktion der Datenrate sehr gute Klangqualität bot. Daher hat es sich im Wettbewerb mit konkurrierenden Audioformaten – angetrieben durch die Netzwerkeffekte des Internets – am schnellsten durchgesetzt und am weitesten verbreitet.

Die Digitalisierung von Musik begann mit der CD, die Anfang der 80er Jahre eingeführt wurde. Die CD speichert Musik mit einer Bitrate von 1411 kbit/s, das ergibt für die ganze Scheibe eine Datenmenge von etwa 650 Megabyte. Diese Datenrate ist viel zu hoch, die Datenmenge viel zu groß, um sie effektiv über das Internet oder den Rundfunk zu übertragen und in Speichern unterzubringen. mp3 reduziert die Datenrate auf mindestens ein Zehntel – ohne hörbaren Klangverlust. Erst durch diese deutliche Datenratenreduktion werden viele Anwendungen möglich. Denn fast immer ist Speicherplatz rar oder die Datenrate für eine Übertragung eng begrenzt. So passen heute auf kleine mp3-Player bis zu 200 000 Minuten Musik, das sind über 25 000 CDs, damit kann man über 130 Tage ununterbrochen Musik hören. Hinzu kommt, dass dank der Datenratenreduktion Musik über normale ISDN-Leitungen statt in Stunden in wenigen Minuten übertragen oder sogar in Echtzeit angehört werden kann. Erst das eröffnete die Chance, Musik über das Internet zu verbreiten, ermöglichte Webradio, Streaming und Download.

In der modernen Mediengesellschaft spielen Audiocodecs wie mp3 eine zentrale Rolle. Ohne sie gäbe es weder Mobilplayer noch Musik auf Smartphones, weder Internet-Radio noch digitalen Rundfunk und – nicht zu vergessen – auch keine DVD und kein digitales Fernsehen DVB, denn sie wären ohne Ton nicht möglich.

mp3 ist mehr als mobiler Musikgenuss. Das Codierverfahren hat eine Revolution ausgelöst. »mp3 hat die Art, wie wir Musik kaufen und hören, verändert«, sagt Heinz Gerhäuser, einer der »Väter« von mp3 am Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS. »Heute tragen wir unsere gesamte Musiksammlung auf Musikspielern nicht größer als eine Streichholzschachtel mit uns spazieren. Wir kaufen Musik online übers Internet und nicht mehr im Kaufhaus. Die Technologie, die eine gesamte Industrie revolutioniert hat, nahm ihren Anfang in Erlangen. Aber nur dank unermüdlicher Entwicklungsarbeit und langjähriger Vermarktungsbemühungen wurde mp3 letztlich zu dem, was es heute ist: ein kulturelles Phänomen Made in Germany.«

Wie es dazu kam, dass eine Audiotechnologie aus Deutschland zum weltweiten Standard wurde und die Musikindustrie in einen tiefgreifenden Umbruch stürzte, versucht dieses Buch nachzuzeichnen. Herausforderung war, die erstaunliche Geschichte von mp3 nicht nur zu beschreiben, sondern gleichzeitig zu erklären, warum sie so und nicht anders verlief. Deshalb werden rund um die eigentliche mp3-Geschichte alle Ereignisse, Entwicklungen und Rahmenbedingungen dargestellt, die für den Erfolg wesentlich waren. Sie erleichtern das Verständnis und erweitern den Blick auf die technologischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge, die wir heute mit dem Begriff der »digitalen Revolution« beschreiben. Der Umbruch, der schrittweise alle Lebens- und Arbeitsbereiche durchdringt, wird durch Digitalisierung, Computerisierung und den Ausbau weltweiter Kommunikationsnetze wie Internet und Mobilfunk angetrieben.

Die Musik wurde zum Vorreiter der digitalen Revolution, deren verändernde Kraft sich erst mit dem rasanten Aufstieg des Internets offenbarte. Solche bahnbrechenden technologischen Umwälzungen beschrieb der amerikanische Ökonom Clayton M. Christensen als »disruptive Innovationen«, weil sie anders als normale Innovationen mit dem bisherigen technologischen Entwicklungspfad brechen, völlig neu ansetzen und ganze Branchen umstürzen: Die etablierten Unternehmen ignorieren zunächst, später bekämpfen sie die neuen Technologien, die in kleinen Nischenmärkten heranreifen, bis sie zum Sprung in den Massenmarkt ansetzen. Dann ist es zu spät, die Newcomer nutzen ihren Vorsprung zur Beherrschung des Marktes. Welche Rolle mp3 in dem Jahrzehnte dauernden Prozess der Transformation der Musikindustrie spielt, sieht man heute – nach dem Ende der turbulenten Phasen – viel entspannter und klarer. So wird mp3 inzwischen nicht mehr als »Zerstörer«, sondern als Erneuerer der Musikindustrie wahrgenommen.

Außerdem soll dieses Buch mithelfen, ein Fehlurteil geradezurücken, das, einmal in die Welt gesetzt, nicht mehr aus den Medien verdrängt werden kann – allen Entgegnungen zum Trotz. Im Juni 2014 wurde es im Politikmagazin Cicero wieder einmal hervorgeholt: »Bei der deutschen Bahn verrotten die Schienen, das mp3-Format hat Apple groß gemacht, nicht sein Erfinder, das steuerlich gut durchfinanzierte Fraunhofer-Institut«3, schrieb der Autor Alexander Pschera, um den generellen Vorwurf zu belegen, dass Deutschland Innovationen skeptisch bis ablehnend gegenüber steht. Oft wird das Beispiel mp3 auch benutzt, um darzulegen, dass Deutschland gut im Erfinden, aber schlecht im Vermarkten sei und amerikanischen Firmen wie Apple das Geldverdienen überlasse. So treffend die Kritik an Deutschlands Innovationsschwächen auch sein mag, so falsch ist es, die mp3-Erfinder dafür verantwortlich zu machen. Groß gemacht haben mp3 das Internet und die Tauschbörsen, Apple ist erst richtig eingestiegen, als mp3 bereits weltweit verbreitet war. Geld mit mp3 verdienen nicht nur Apple, sondern viele Unternehmen – auch Firmen aus Deutschland und das Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS in Erlangen, das jährlich Lizenzeinnahmen in Millionenhöhe erzielt. Im Übrigen bekommt das Fraunhofer-Institut nur einen kleinen Teil aus öffentlichen Mitteln und muss den größten Anteil durch Vertragsforschung selbst erwirtschaften. Die Aufgabe eines Fraunhofer-Instituts ist es, neue Technologien bis zur Marktreife zu entwickeln, dann ist es aber die Sache von Unternehmen, daraus innovative Produkte zu machen und am Markt durchzusetzen.

Eine Erfindung wird erst mit der schrittweisen Konkretisierung durch Industrie und Markt zur Innovation. Dieter Seitzer, der Initiator von mp3 und Gründungsdirektor des Fraunhofer IIS, hat das Prinzip der angewandten Forschung einmal so ausgedrückt: »Unser Erfolg ist der Erfolg anderer.« So hat das Fraunhofer IIS seine Entwicklungen zuerst deutschen Unternehmen angeboten. Es fanden sich auch eine Reihe kleiner Technologieunternehmen, die damit Produkte entwickelten. Nicht vergessen werden sollte dabei der Freiburger Chiphersteller ITT Intermetall, heute Micronas, der über viele Jahre 95 Prozent Weltmarktanteil an den mp3-Chips hatte. Dass es in Deutschland keine Firma wie Apple gab, die ein Kultobjekt wie den iPod erschaffen und ein erfolgreiches Geschäftsmodell für den Online-Musikvertrieb etablieren konnte, kann man nicht den mp3-Erfindern anlasten. Immerhin haben sie es durch ihr Engagement und Durchhaltevermögen geschafft, dass mp3 – gegen alle Widerstände der Industrie – erfolgreich wurde.

Daher erkennen Journalisten, die sich intensiver mit dem Thema mp3 befassen: »Wer den 70 Millionen Euro teuren Designer-Neubau in Erlangen sieht, begreift sofort: Der Mythos stimmt nicht. Der Mythos, der besagt, dass die Deutschen mit dem Komprimierungsverfahren mp3 zwar die Musikbranche umgewälzt haben – aber keinen Cent daran verdienen. Völlig falsch. Ihre Entwicklung hat der Fraunhofer-Gesellschaft Lizenzeinnahmen beschert, die an der Milliardenmarke kratzen.«4

So ist die mp3-Story zum Ersten die Geschichte eines technologischen Durchbruchs und deren Erfinder aus Erlangen, zum Zweiten die typische Geschichte einer disruptiven Innovation, die das bisherige Geschäftsmodell der Musikindustrie angreift und eine ganze Branche umstürzt, und zum Dritten ein Lehrbeispiel für den Medienwandel durch Digitalisierung, der unsere traditionelle bürgerliche Kultur...

 

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