Hormesis - Das Prinzip der Widerstandskraft. Wie Stress und Gift uns stärker machen

Richard Friebe

Hormesis

Das Prinzip der Widerstandskraft. Wie Stress und Gift uns stärker machen

2016

360 Seiten

Format: ePUB

E-Book: €  12,99

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ISBN: 9783446443259

 

EINLEITUNG


Am Anfang dieses Buches steht etwas, das zugleich Philosophie und Binsenweisheit ist:

Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.1

Das stammt von Nietzsche. Es ist ein hübscher Spruch. Und im täglichen Leben ist er sehr hilfreich hie und da – etwa wenn es darum geht, jemanden aufzumuntern.

Tatsächlich gibt es auffallend vieles, was Menschen zunächst sehr unter Druck setzt, stresst, ihnen wehtut, sie manchmal buchstäblich fast umbringt – sie aber letztlich besser dastehen lässt als zuvor. Und damit ist ein großer Teil dessen, worum es in diesem Buch geht, bereits umrissen.

Doch wie, warum, wo, wann, unter welchen Umständen und Voraussetzungen passiert das? Warum führt ein gewisses Maß an Stress, Gift, Krankheit, an physischer Gewalt sogar, dazu, dass man danach besser gegen Stress, Gift, Krankheit und dergleichen geschützt ist? Und was läuft dabei eigentlich im Körper ab?

All das liegt bereits weit jenseits der Binsenzone. Es ist hochaktuelle Wissenschaft. Es ist kontroverse Wissenschaft. Es ist Wissenschaft, die unser Bild des Lebens – und das eines gesundheitsförderlichen Lebens – grundsätzlich umwälzen wird.

Weitgehend unbemerkt, und nur in verstreuten Meldungen etwa aus der Sport- und Trainingsforschung unter anderem Namen aufscheinend, vollzieht sich derzeit eine Revolution in Medizin und Biowissenschaften. Sie beginnt in der Toxikologie und erstreckt sich bis hin zur Krebsforschung. Die Befunde lauten nicht selten so: Es ist alles ganz anders, als man bisher glaubte. Da wirkt Vitamin C plötzlich nicht als Antioxidans, sondern als Pro-Oxidans – also genau als das, was es eigentlich bekämpfen soll. Und das ist dann sogar gut so. Da profitieren Patienten von Maßnahmen, die jede Menge eigentlich ungünstiger, giftiger Stoffe im Körper freisetzen. Da wirkt radioaktive Strahlung plötzlich nicht krebserregend, sondern offensichtlich krebsverhindernd. Da stellt sich überraschend heraus, dass viele als gesund geltende Stoffe in Wirklichkeit Gifte sind, letztendlich aber meist tatsächlich gesundheitsförderlich wirken. Da zeigen Untersuchungen, dass bei sportlichen Aktivitäten der Körper mit Giften geflutet wird und deshalb nicht der Sport selbst, sondern nur die körperliche Reaktion auf all jene Gifte »gesund« ist. Da gibt es plötzlich Gründe, sich entspannt zurückzulehnen, wenn man die Meldung liest, dass im lokalen Trinkwasser winzige Spuren von Arsen gefunden wurden, oder Uran im Sprudel. Denn diese Spuren sind vielleicht nicht nur unbedenklich, sondern könnten sogar sehr willkommen sein.

Die Umwälzung hat also längst begonnen. Das Bild des Lebens – des gesunden Lebens vor allem – wird bereits neu gezeichnet. Der Widerwille bei vielen im Establishment ist groß – so wie jede Revolution denen Angst macht, die es sich im bestehenden System kommod eingerichtet haben. Doch die Entwicklung ist unaufhaltsam. Die Geschichte unseres Austausches mit der Umwelt und all den Stressfaktoren, die aus dieser Umwelt auf uns einwirken können, wird neu geschrieben.

Unzählige Gesundheitstipps, Medikamente, Nahrungsergänzungsstoffe, Therapien, Trainingsmethoden, landwirtschaftliche Praktiken und vieles mehr beruhen schon heute auf dem Prinzip, um das es in diesem Buch geht. Doch selbst die, die jene Ratschläge geben, jene Substanzen vermarkten, mit jenen Trainingsmethoden arbeiten, jene Agrar-Praktiken anwenden, haben meist noch nie davon gehört.

Es heißt Hormesis. Es ist eines der wichtigsten, der bestimmenden Prinzipien allen Lebens

Es bedeutet schlicht, dass Dosis und Wirkung eines Giftes, eines Stressfaktors, einer Strahlung und dergleichen fast nie strikt im Sinne »Höhere Dosis – größere, aber gleichartige Wirkung« zusammenhängen. Es bedeutet, dass niedrige Dosen von etwas, das in hohen Dosen schädlich ist, oft sehr, sehr nützlich sind.

Eine gewisse Menge eines Giftes kann nicht nur unschädlich, sondern gesundheitsfördernd sein. Oder leistungssteigernd. Oder stimmungsverbessernd. Eine gewisse Menge Strahlung kann nicht nur unbedenklich sein hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, einen Tumor zu bekommen, sondern höchstwahrscheinlich sogar eine Krebsentstehung deutlich unwahrscheinlicher machen. Eine gewisse Menge psychischen Stresses macht uns zu besseren Denkern, zu sozialeren Wesen, ja zu glücklicheren Menschen.

Die Dosis macht das Gift. Das hat schon Paracelsus vor einem halben Jahrtausend gelehrt.

Auch das ist eine sehr hübsche, kurze und griffige Weisheit. Gemeint hat schon er damit aber etwas anderes als den schlichten Unterschied zwischen Nichtwirkung und Giftwirkung, sondern jenen zwischen Heilwirkung und Giftwirkung. Und das ist keine Binsenweisheit, sondern eine fundamentale Einsicht in die Mechanismen der lebenden Natur, in die Physiologie, in das Leben selbst.

Paracelsus, Nietzsche. Jahrhundertealte Einsichten, die sich in der Gegenwart bestätigen. Aber richten wir uns nach ihnen? Sind sie ein Grundprinzip der Medizin, der Arzneimittellehre, der Toxikologie? Fußen populäre Gesundheitsratschläge ganz bewusst auf ihnen? Richtet sich die öffentliche Gesundheitsvorsorge und -versorgung daran aus? Wird der Umgang mit Umweltgiften durch diese Einsichten geleitet? Sind sie Grundlage von Forschungsstrategien? Nein.

Werden schädliche Substanzen routinemäßig im Labor verdünnt, um zu untersuchen, ob sie dann vielleicht sogar biologisch günstige, therapeutische, vorbeugende Wirkungen haben könnten? Werden Grenzwerte aufgrund solcher Untersuchungen festgelegt? Nein.

Dass dies so ist, hat vielfältige Gründe. Einer liegt vielleicht tief in der Psychologie und Kulturgeschichte des modernen westlichen Menschen. Für ihn – für uns also – ist es nicht leicht zu akzeptieren, dass nicht alles in der Natur geradeaus und nach dem kleinen Einmaleins funktioniert. Die Unfähigkeit, Gut und Böse in ein und derselben Sache zu sehen, kommt wohl dazu, denn das verbieten im Grunde sowohl die abendländische religiöse Tradition als auch die Aufklärung. Es ist auch eine Angst vor dem Mephistophelischen, obgleich wir wissen, dass es oft zwar das Böse will, aber doch das Gute schafft. Davon, dass jene Janusköpfigkeit ein und derselben Sache natürlich erst einmal ein Mysterium ist, ganz zu schweigen.

Tatsache ist: Überall dort, wo Substanzen, Strahlen, Kräfte, Stressfaktoren auf Lebendes einwirken, liegt der Unterschied zwischen Gut und Böse fast nie in den Substanzen, Strahlen, Kräften selbst, sondern in der Dosis. Tatsache ist aber auch, dass sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis – von der biomedizinischen Forschung über die Toxikologe und Pharmakologie bis hin zur Ökologie und Landwirtschaft – nach wie vor von sehr vielen so getan wird, als gebe es das alles nicht.

Es ist schon ein paar Jahrzehnte her, da saß ein Student namens Edward Calabrese in einem Botanik-Kurs am State College at Bridgewater in Massachusetts. Es war keine Forschung, die er da betrieb, sondern Lehre, die er über sich ergehen ließ. Ed und seine Kommilitonen versuchten sich an einem zuvor schon tausendfach wiederholten Praktikumsexperiment, das normalerweise folgendermaßen abläuft: Man verabreicht Pflanzen eine wachstumshemmende Substanz, und siehe da, ihr Wachstum wird gehemmt. Pflanzenphysiologie für Anfänger. In Edwards Gruppe allerdings passierte etwas Unerwartetes: Der Wachstumshemmer Phosphon regte Minze zum Wachstum an. Logische Erklärung normalerweise: Da ist etwas schiefgegangen, ein Reagens zum Beispiel war schlecht. Man wiederholt das Experiment, arbeitet so sauber wie möglich, passt besser auf bei jedem Schritt, und dann kommt schon das Erwartete heraus. Man kann es abheften und ein Bier trinken gehen. Und das schiefgegangene Experiment vergisst man und wirft das, was davon übrig ist, in den Müll. Das hätte auch Alexander Fleming tun können, als ihm eine Petrischale mit Bakterienkulturen verschimmelt war. Doch er sah genauer hin und sah in der Umgebung des Schimmels eine komplett bakterienfreie Zone. Es war der Grundstein für die Antibiotikatherapie.

Auch Ed Calabreses Professor ließ damals das Experiment zwar wiederholen. Er fragte allerdings auch in die Runde, ob jemand Lust hätte, diesem vielleicht doch ganz interessanten Phänomen weiter auf den Grund zu gehen. Es gingen nicht viele Hände in die Höhe, tatsächlich war es nur eine. Die von Ed. Er zog also das Praktikumsexperiment noch einmal durch. Dabei versuchte er aber nicht primär, jetzt alles richtig zu machen. Er wollte vielmehr herausfinden, was genau er und seine Jahrgangsgenossen zuvor falsch gemacht hatten. Es stellte sich heraus, dass der Wachstumshemmer zehnmal stärker verdünnt worden war als in der Experimentieranleitung vorgegeben. In dieser Konzentration wirkte er komplett gegensätzlich, nämlich als Wachstumsverstärker.

Gut vier Jahrzehnte später ist der Student von damals Professor. Seine Publikationsliste zählt ein paar hundert Fachartikel. Viele davon behandeln Varianten des Phänomens aus jenem Botanik-Praktikum: Etwas, das eine bekannte Wirkung hat, hat eine vollkommen andere, gegenteilige Wirkung, wenn man die Dosis herabsetzt. So werden Wachstumshemmer zu Wachstumsbeschleunigern, Gifte zu Therapeutika, sogar schädliche Strahlen zu nützlichen Strahlen.

Hormesis, so zeigte sich über die Jahrzehnte, ist ein Grundprinzip der belebten Natur.

Ed Calabrese allerdings hat bislang keinen Nobelpreis bekommen. Lange Zeit bekam er auch deutlich mehr scharfe Kritik als Anerkennung. Er galt als Außenseiter, als gefährlicher Häretiker. Er hatte Vorwürfe aus allen...

 

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