Die Kurve - Wie man heute im Internet richtig Geld verdient

Nicholas Lovell

Die Kurve

Wie man heute im Internet richtig Geld verdient

2014

344 Seiten

Format: ePUB

E-Book: €  3,99

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ISBN: 9783446438910

 

VORWORT


»Stehlt es. Stehlt drauf los. Stehlt, stehlt und stehlt noch mehr, kopiert es für all eure Freunde und stehlt weiter, weil diese Hurensöhne es irgendwann mal kapieren müssen, dass sie die Leute abzocken und dass das nicht richtig ist.«1

Das klingt nach einem Anarchisten. Oder einem Mitglied der Piratenpartei. Aber nein, dies sind die Worte von Trent Reznor, dem Frontmann der Nine Inch Nails, einer Industrial-Rock-Band, deren erstes Album, Pretty Hate Machine, im Jahr 1989 erschien. Bei einem Konzert in Sydney im Jahr 2007 rief Reznor seine Fans dazu auf, seine Musik zu stehlen, und bezeichnete seine Plattenfirma als »verdammte gierige Arschlöcher«.

Wie kam es dazu? Und wie wollte Reznor Geld verdienen, wenn alle Fans seine Musik umsonst downloadeten?

Reznor verbrachte seine Kindheit und Jugend auf dem Land in Pennsylvania, wo es »außer Maisfeldern nichts zu sehen gab«.2 Er flüchtete in die Musik und bekam mit fünf Jahren den ersten Klavierunterricht. In der Highschool spielte er Tenorsaxofon in der Jazzband und Tuba in der Blaskapelle. Reznor beherrscht noch sehr viel mehr Instrumente als nur Klavier und Blechbläser. Unter anderem spielt er Gitarre, Klavier, Synthesizer, Mellotron, Keyboard, Bassgitarre, Saxofon, Cello, Kontrabass, Schlagzeug, Tuba, Susafon, Harmonium, Marimba, Panflöte, Cembalo und Vibrafon.3

Trotz seines musikalischen Talents entschied sich Reznor nach der Schule für ein Informatikstudium am Allegheny College, das er nach einem Jahr abbrach. Er zog daraufhin nach Cleveland, um dort als Berufsmusiker zu arbeiten.4 Die Chance auf den großen Durchbruch ergab sich durch einen Job als Techniker und Hausmeister beim Right Track Studio in Cleveland. Reznors Arbeitseinstellung und -leistung beeindruckten den Besitzer des Aufnahmestudios, Bart Koster: »Bei allem, was er tut, ist er immer voll konzentriert. Wenn der Typ den Boden bohnerte, sah der nachher toll aus.«5 Reznor fragte, ob er im Studio eigene Demosongs aufnehmen durfte. Bei einem Interview im Jahr 1995 kommentierte Koster: »Wie hätte ich mich diesem Mann in den Weg stellen können? Außer ein bisschen Abnutzung an den Tonköpfen kostete es mich ja nichts.«

Damit hatte Reznor ein Aufnahmestudio. Jetzt musste er nur noch Musiker finden, die bereit waren, ohne Bezahlung zwischen drei und acht Uhr morgens zu arbeiten. Als er keine fand, tat er das, was jeder anständige Perfektionist tun würde: Er spielte alle Instrumente selbst.6 Bei Prince hatte es schließlich funktioniert.

Und auch für Reznor funktionierte es. Kurze Zeit später unterschrieb er bei TVT Records und veröffentlichte das Debütalbum der Nine Inch Nails, Pretty Hate Machine.7 Das Album verkaufte sich eine Million Mal, und TVT verlangte von Reznor ein weiteres kommerzielles Erfolgsalbum. Doch Reznor legte hier den Grundstein für eine Entwicklung, die letztendlich zu seinem Bruch mit den traditionellen Plattenfirmen führte. Er widersetzte sich der Einmischung in die künstlerischen Entscheidungen der Nine Inch Nails in einem heftigen Rechtsstreit.

Reznor trennte sich schließlich von TVT und unterschrieb bei dem Interscope-Label. Dort veröffentlichte er im Jahr 1992 die EP Broken. Die weitere Karriere Reznors in den folgenden zehn Jahren ist fast ein Klischee: Auf den Riesenerfolg mit The Downward Spiral folgten eine lange drogeninduzierte Schreibblockade sowie erfolgreiche Kollaborationen unter anderem mit dem Sänger Marilyn Manson, dem Regisseur Oliver Stone bei dem Film Natural Born Killers und dem Spieleentwickler id Software für das Videospiel Quake.

Reznors Verhältnis zu Plattenfirmen war von Anfang an gespannt, und die Lage spitzte sich wegen der Preise zu, die Interscopes Mutterkonzern Universal Music für Reznors Alben in Australien verlangte. In einem Interview mit Music 2.0 sagte Reznor:

Year Zero wird für 34,99 australische Dollar verkauft (etwa 23,50 Euro). Da ist es kein Wunder, dass die Leute Musik klauen. Im selben Laden kostete die Platte von Avril Lavigne 21,99 Dollar (14,84 Euro). Ich wies einen Mitarbeiter der Plattenfirma darauf hin, und er antwortete: ›Sie haben eine stabile Fanbasis, die jeden Preis bezahlt, wenn Sie etwas Neues herausbringen – echte Fans eben. Das Popzeugs müssen wir billiger machen, damit die Leute es kaufen.‹ Das bedeutete wohl, dass ein ›echter Fan‹ zur Belohnung abgezockt wird.8

Danach rief Reznor seine erstaunten Fans auf, seine Musik zu stehlen. Gleichzeitig suchte er nach Alternativen, um mit seinen Musikaufnahmen Geld zu verdienen.

Reznor kannte sich hervorragend mit Digitaltechnik aus. Er hatte nicht nur zwei Semester Informatik studiert, sondern er war auch ein begeisterter Gamer und er liebte Technik. Die Nine Inch Nails hatten im Jahr 2007 mit einer techniklastigen viralen Marketingkampagne für das Album Year Zero experimentiert. Bei den Konzerten der Band lagen auf den Toiletten USB-Sticks für die Fans bereit. Sie enthielten neue Songs, aber auch eine Audiodatei mit Geräuschen. Wenn man diese Audiodatei in einen Spektrumanalysator einspielte, erschien auf der Anzeige des Geräts eine Telefonnummer.9

Die Telefonnummern gehörten zu Anrufbeantworten, auf die Verschwörungstheorien aufgesprochen waren. Überall im Internet stießen Fans auf weitere gefälschte Websites. Schnell entstanden Internetforen und Wikis, in denen die Botschaften und Theorien diskutiert wurden, bis im April schließlich Year Zero erschien.

Reznors technische Expertise, seine Abneigung gegen das System der Plattenfirmen und die immer besseren Möglichkeiten des Internets als Vertriebskanal führten im Jahr 2008 zu einem wahrscheinlich unvermeidlichen Ergebnis: Reznor trennte sich von Interscope Records und gründete sein eigenes Label. Seine nächste musikalische Veröffentlichung war ein Musterbeispiel dafür, wie ein Künstler mit den Möglichkeiten des Internets ein Album zu einem finanziellen Erfolg machen konnte, obwohl er es verschenkte.

Ghosts I–IV ist ein 36-Track-Album mit instrumentalem Industrial Rock, auch wenn es eher wie vier Neun-Track-Alben wirkt, die als ein Gesamtalbum veröffentlicht wurden. Reznor bot das Album von Anfang an zu unterschiedlichen Preisen an.

Ghosts I erschien als kostenloser digitaler Download. Wer auf Reznors Website seine E-Mail-Adresse hinterlegte, konnte es herunterladen. Doch Reznor ging noch einen Schritt weiter. Er wollte ein größtmögliches Publikum erreichen und lud daher Ghosts I bei Filesharing-Sites hoch, bei BitTorrent und The Pirate Bay.

Das komplette Album, Ghosts I–IV, erschien als digitales Album für fünf US-Dollar. Natürlich wussten viele Fans bereits, wie sie auf Filesharing-Sites kurz nach dem Verkaufsstart umsonst an das Album kamen, aber Reznor stellte für seine Fans eine »Kasse des Vertrauens« bereit, über die sie ihm Geld zukommen lassen konnten. Außerdem gab es das Album auf traditioneller physischer CD für zehn US-Dollar und eine Deluxe Edition für 75 US-Dollar. Reznors Meisterstreich war jedoch die 300 US-Dollar teure Ultra-Deluxe Edition.

In der Ultra-Deluxe Edition waren vier 180-Gramm-Vinylschallplatten von Ghosts I–IV enthalten sowie drei Hardcoverbücher mit Prägedruck und Textileinband in einem Textilschuber. Alle 2500 Einzelstücke dieser Edition waren nummeriert und von Trent persönlich signiert. Jeder Kunde durfte nur ein Exemplar erwerben.

In weniger als 30 Stunden war die Ultra-Deluxe Edition komplett ausverkauft, und Reznor hatte 750000 US-Dollar eingenommen. In der ersten Woche verkaufte Reznor Alben für 1,6 Millionen US-Dollar, obwohl er seine Musik umsonst anbot und seine Fans sogar auf die Filesharing-Netzwerke hinwies, wo das komplette Album wenige Stunden nach dem Verkaufsstart zu finden war.10

Reznor hat als Pionier aufgezeigt, wie der Übergang von der analogen zur digitalen Technik unsere Vorstellungen vom Massenmarkt, der Preisfindung und den Gefahren der kostenlosen Weitergabe zerstört hat.

Digitalisierung und die Tendenz zum Nullpreis bedrohen Unternehmen in allen Teilen des Marktes. Doch die eigentliche Bedrohung sind nicht die Raubkopien, sondern die Konkurrenz. Wenn Menschen wie Reznor Möglichkeiten finden, wie sie ihre Produkte oder Schöpfungen verschenken können und trotzdem genügend Geld verdienen, um im Geschäft zu bleiben, dann werden die heutigen Preisniveaus und Geschäftspraktiken nicht mehr lange zu halten sein.

Die große Herausforderung des 21. Jahrhunderts besteht darin, dass Teilen einfach ist, ein Publikum zu finden jedoch schwierig. Konsumenten wollen immer mehr umsonst haben, doch die Herstellung der Produkte, die sie wollen, ist kostspielig. Wie kann man die Herstellung der Dinge finanzieren, nach denen Publikum und Konsumenten verlangen?

Die Antwort: Man muss eine neue Denkweise annehmen. Man darf sich nicht mehr auf das größtmögliche Publikum ausrichten, sondern auf die leidenschaftlichen Superfans. Das Internet bietet billige Kommunikationswege, über die man eine Verbindung zu Fans aufbauen kann. Danach...

 

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