Virtuos führen

Justus Frantz, Jens U. Sievertsen

Virtuos führen

2007

254 Seiten

Format: PDF, Online Lesen

E-Book: €  15,99

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ISBN: 9783446412989

 

AUS PROBLEMEN WERDEN ZIELE (S. 113)

Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.

Albert Einstein

Zu Beginn des zweiten Satzes der Unvollendeten Sinfonie von Franz Schubert, nachdem die Hörner weich das erste Thema haben ausklingen lassen und die Streicher zart das neue Seitenthema gelegt haben, steigt wie aus durchscheinendem Bodennebel der Klang der Klarinette auf. In langsamem Tempo, voller Spannung, pianissimo, aber suggestiv erschließt sie allen Musikern und Zuhörern die tief melancholische, erschütternde Einsamkeit des Komponisten. Die Philharmonie der Nationen probt heute diesen Satz. Der Klarinettist ist neu im Orchester, stolz, ein Teil der Philharmonie zu sein, und gut vorbereitet.

Sein Solo erstreckt sich über etliche Takte – und er muss den Atem aufrechterhalten, um die Töne in ihrem Ausdruck nicht nur lauter werden, sondern auch im Volumen anschwellen zu lassen. Doch in diesem Tempo – andante con moto: gehend mit Bewegung – ist ihm das nicht möglich. Der Klarinettist muss zwischendrin kurz Luft holen, das hat den Klangfluss fast unmerklich unterbrochen. Der Dirigent klopft daraufhin ab. Es ist kein Drama, aber allen ist die winzige Unterbrechung aufgefallen.

Um die Aufführung der Unvollendeten Sinfonie, die an einem der nächsten Abende stattfindet, zu einem wahrhaft unvergesslichen Erlebnis werden zu lassen, muss an dieser Passage also noch gearbeitet werden. Keiner der anderen Musiker wird sich dieser Arbeit nun verweigern, niemand wird denken: Soll der Kollege doch allein weiterüben, bevor er uns mit seinem Mangel belästigt. Nein, alle helfen mit – und sie wissen: Sie würden diese Hilfe ebenfalls erhalten.

Die Arbeit an diesem Problem wird auch nicht vertagt. Jetzt, genau jetzt wird die Passage gemeinsam erarbeitet, bis sie gelingt. Der Dirigent lässt alle Musiker die entsprechenden Takte in einem rascheren Tempo spielen. Das ist das Entgegenkommen aller, um dem Klarinettisten sein Spiel in einem Atemzug zu ermöglichen. Bereits der erste Versuch ist erfolgreich. Das schenkt dem Klarinettisten das Erlebnis, seinen Solopart mit nur einem Atem fließend spielen zu können.

Das Tempo ist noch zu schnell, aber es ist bereits ein Erfolg – sein Erfolg. Die Freude und Erleichterung sind dem Klarinettisten anzusehen. Die Kollegen freuen sich mit ihm und applaudieren, die Streicher klopfen mit ihren Bögen auf die Notenpulte. Er hat es geschafft – das legt den Grundstein dafür, dass es auch im gewünschten Tempo gelingen wird. Vielleicht noch nicht im nächsten Schritt, aber nach und nach. Und an dieser Entwicklung arbeiten alle Musiker mit und unterstützen ihn.

Dies gibt dem Klarinettisten die notwendige Kraft und Zuversicht für die nächsten Durchläufe. Nach und nach wird nun das Tempo herausgenommen, und Schritt für Schritt gelingt es dem Klarinettisten, die Klangfolge in nur einem Atemzug zur schönsten Melodie werden zu lassen. Vier Schritte bedarf es, dann schafft er es im vorgegebenen Tempo, andante con moto.

Was hier als ideal anklingt, ist in der Probenarbeit des Orchesters Alltag. Hier wird der häufig thematisierte Ansatz, „die Menschen dort abholen, wo sie stehen", in Handlung umgesetzt. Es ist gut und wichtig, sich von Zeit zu Zeit wieder ins Bewusstsein zu rufen, dass es auch erst solche Handlungen sind, die Veränderungen ermöglichen.

 

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