Abgehängt - Wo bleibt der Mensch, wenn Computer entscheiden?

Nicholas Carr

Abgehängt

Wo bleibt der Mensch, wenn Computer entscheiden?

2014

318 Seiten

Format: ePUB

E-Book: €  15,99

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ISBN: 9783446440609

 

KAPITEL ZWEI


DER ROBOTER AM TOR


Anfang der 1950er Jahre zeichnete der beliebte Karikaturist beim britischen Satiremagazin Punch, Leslie Illingworth, ein Bild düsterer Vorahnung: In der Dämmerung eines offensichtlich stürmischen Herbsttages lugt ein Arbeiter ängstlich aus dem Eingang einer anonymen Fabrikanlage. Mit einer Hand hält er ein kleines Werkzeug umfasst, die andere ist zu einer Faust geballt. Er blickt über den trüben Fabrikhof zum Haupteingang. Dort steht neben einem großen Schild mit der Aufschrift »Hilfskräfte gesucht« ein riesiger breitschultriger Roboter. Auf seiner Brust prangt in Großbuchstaben das Wort »Automatisierung«.

Die Illustration war ein Zeichen der Zeit, sie reflektierte eine neue Angst in der westlichen Gesellschaft. 1956 wurde die Zeichnung erneut abgedruckt, auf dem Titel des schmalen, aber einflussreichen Buches Automation: Freund oder Feind? von Robert Hugh Macmillan, einem Professor für Maschinenbau an der Cambridge University. Auf der ersten Seite stellte Macmillan eine beunruhigende Frage: »Besteht die Gefahr, dass wir von unseren eigenen Geschöpfen zerstört werden?« Er meinte nicht die bekannten »Gefahren einer unbegrenzten Kriegführung ›auf Knopfdruck‹«. Er sprach von einer weniger diskutierten, aber noch tückischeren Gefahr: »der schnell wachsenden Rolle automatischer Geräte in der zivilen Industrie aller zivilisierten Länder«.1 So wie frühere Maschinen »die Muskeln des Menschen ersetzten«, schien es wahrscheinlich, dass diese neuen Geräte »sein Gehirn« ersetzen würden. Durch die Übernahme zahlreicher gut bezahlter Arbeiten drohte weitläufige Arbeitslosigkeit, die wiederum zu sozialen Konflikten und Aufruhr führen würde – wie es Karl Marx ein Jahrhundert zuvor vorausgesehen hatte.2

Doch so musste es nicht kommen, fuhr Macmillan fort. »Richtig eingesetzt« könnte die Automatisierung wirtschaftliche Stabilität bringen, den Wohlstand fördern und die menschliche Rasse von ihrer Mühsal erlösen. »Meine Hoffnung ist es, dass dieser neue Zweig der Technologie es uns schließlich ermöglicht, den Fluch von Adams Schultern zu nehmen, denn Maschinen könnten tatsächlich Sklaven des Menschen werden und nicht ihre Meister, jetzt, wo praktische Verfahren entwickelt wurden, um sie automatisch zu steuern.«3 Ganz gleich, ob die Technologien der Automatisierung sich letztendlich als Fluch oder Segen erwiesen, eine Sache war sicher: Sie würden eine immer größere Rolle in der Industrie und in der Gesellschaft spielen, warnte Macmillan. Die wirtschaftlichen Erfordernisse einer »stark wettbewerbsorientierten Welt« machten das unausweichlich.4 Wenn ein Roboter schneller, billiger oder besser war als sein menschliches Pendant, dann würde der Roboter die Arbeit bekommen.

SELTSAME VERWANDTE


»Wir sind Brüder und Schwestern unserer Maschinen«, sagte der Technikhistoriker George Dyson einmal.5 Geschwisterliche Bande sind meist belastet, so auch unsere Beziehung zu den technologischen Verwandten. Wir lieben unsere Maschinen – nicht nur, weil sie nützlich sind, sondern auch, weil wir sie unterhaltsam und sogar schön finden. In einer guten Maschine sehen wir manche unserer tiefsten Sehnsüchte verwirklicht: den Wunsch, die Welt und ihre Mechanismen zu verstehen, den Wunsch, die Kräfte der Natur unseren eigenen Zwecken zu unterwerfen, den Wunsch, dem Kosmos etwas Neues unserer eigenen Prägung hinzuzufügen, den Wunsch, mit Erstaunen und Ehrfurcht erfüllt zu werden. Eine raffinierte Maschine kann uns mit Staunen und Stolz erfüllen.

Doch Maschinen sind auch hässlich, und wir empfinden sie als Bedrohung für das, was uns lieb und teuer ist. Maschinen können Ausdruck menschlicher Macht sein, doch diese Macht liegt eher in der Hand von Industriellen und Financiers, die die Maschinen besitzen, und nicht bei den Menschen, die sie gegen Bezahlung bedienen. Maschinen sind kalt und unbeseelt, und in ihrem Gehorsam gegenüber vorgeschriebenen Abläufen sehen wir ein Abbild finsterer Möglichkeiten der Gesellschaft. Wenn Maschinen etwas Menschliches in den fremden Kosmos bringen, bringen sie auch etwas Fremdes in die menschliche Welt. Der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell fasste es in einem Essay aus dem Jahr 1924 lapidar zusammen: »Maschinen werden verehrt, weil sie schön sind, und geschätzt, weil sie Macht verleihen; man hasst sie, weil sie hinterhältig sind, und verabscheut sie, weil sie zur Sklaverei führen.«6

Wie Russels Kommentar nahelegt, hat die Spannung in R. H. Macmillans Ansicht über automatisierte Maschinen – sie vernichten oder erlösen uns, befreien oder versklaven uns – eine lange Geschichte. Dieselbe Spannung prägte immer die allgemeine Reaktion auf Maschinen in der Fabrik seit dem Beginn der industriellen Revolution vor mehr als zwei Jahrhunderten. Viele unserer Vorfahren begrüßten die mechanisierte Produktion und sahen darin ein Symbol für Fortschritt und einen Garanten für Wohlstand, andere befürchteten, die Maschinen könnten ihnen die Arbeit und sogar ihre Seele wegnehmen. Seitdem war die Geschichte der Technik von schnellem und oft verwirrendem Wandel geprägt. Dank der Genialität unserer Erfinder und Unternehmer verging kaum ein Jahrzehnt ohne die Entwicklung neuer raffinierterer und leistungsfähigerer Maschinen. Doch unsere Ambivalenz gegenüber diesen fantastischen Schöpfungen, Schöpfungen unserer eigenen Hände und unseres Verstandes, ist geblieben. Es ist fast, als sähen wir in diesen Maschinen, wenn auch nur undeutlich, etwas von uns selbst, dem wir nicht ganz trauen.

In seinem Meisterwerk aus dem Jahr 1776 Der Wohlstand der Nationen, dem grundlegenden Text zum freien Unternehmertum, pries Adam Smith die große Vielfalt der von den Produzenten installierten »schönen Maschinen«, »welche die Arbeit erleichtern und abkürzen«. Indem sie ermöglichten, dass ein Mensch »die Arbeit vieler« leistete, sagte er voraus, würde die Mechanisierung der industriellen Produktivität einen gewaltigen Aufschwung verschaffen.7 Fabrikbesitzer würden mehr Gewinne machen, die sie wieder in eine Ausweitung ihrer Geschäfte investieren würden – sie würden mehr Anlagen bauen, mehr Maschinen kaufen, mehr Arbeiter anstellen. Jede einzelne Maschine würde die Arbeit verringern und wäre keinesfalls schlecht für die Arbeiter, sondern würde langfristig den Bedarf an Arbeitskräften steigern.

Andere Denker teilten Smiths Einschätzung und erweiterten sie. Dank der höheren Produktivität durch die arbeitsersparende maschinelle Ausstattung würden sich die Arbeitsplätze vervielfältigen, sagten sie. Die Löhne würden steigen, und die Preise für die Waren würden sinken. Die Arbeiter hätten mehr Geld in den Taschen, mit dem sie Produkte der Hersteller kaufen würden, die sie beschäftigten. So wäre mehr Kapital für die industrielle Expansion vorhanden. Also würde die Mechanisierung einen Kreislauf in Gang setzen, der das wirtschaftliche Wachstum einer Gesellschaft beschleunigt, ihren Wohlstand vermehrt und verbreitet und seinen Menschen das bringen würde, was Smith als »Bequemlichkeit und Luxus« bezeichnete.8 Diese Auffassung von Technologie als wirtschaftlichem Zaubertrank schien glücklicherweise von der frühen Geschichte der Industrialisierung bestätigt und ist seither eine feste Größe in der Wirtschaftstheorie. Diese Vorstellung überzeugte nicht nur frühe Kapitalisten und ihre gelehrten Brüder. Viele Sozialreformer lobten die Mechanisierung und knüpften daran die Hoffnung, die städtischen Massen aus Armut und Knechtschaft zu führen.

Wirtschaftsexperten, Kapitalisten und Reformer konnten es sich leisten, die Sache auf lange Sicht zu betrachten. Die Arbeiter selbst konnten das nicht. Schon eine kurzfristige Verkürzung der Arbeit konnte ihre Lebensgrundlage real und sofort bedrohen. Die Aufstellung neuer Fabrikmaschinen machte zahlreiche Menschen arbeitslos und zwang andere, qualifizierte, interessante Arbeit gegen langweilige, eintönige Tätigkeiten wie das Drücken von Hebeln und Pedalen zu tauschen. In vielen Teilen Großbritanniens sabotierten gelernte Arbeiter im 18. und frühen 19. Jahrhundert die neuen Maschinen, um ihre Arbeit und ihren Berufsstand zu verteidigen. »Maschinenstürmer« wurden sie genannt, und dabei handelte es sich nicht einfach um einen Angriff auf den technischen Fortschritt. Es war ein konzertierter Versuch von Geschäftsleuten, ihren Lebensstil zu wahren, der sehr stark von dem von ihnen ausgeübten Handwerk abhing, und ihre wirtschaftliche und bürgerliche Autonomie zu wahren. »Wenn die Arbeiter etwas gegen bestimme Maschinen hatten«, schreibt der Historiker Malcolm Thomis, der zeitgenössische Berichte über die Aufstände auswertete, »dann dagegen, wie man sie einsetzte, nicht, weil es Maschinen waren oder weil es etwas Neues war«.9

Der Maschinensturm führte zum Luddismus, der in den industriellen Grafschaften in den Englischen Midlands von 1811 bis 1816 wütete. Weber und Stricker fürchteten die Zerstörung ihrer kleinen, lokal organisierten Heimindustrie und bildeten Guerillagruppen mit dem Ziel, die großen Textilfabriken davon abzuhalten, mechanische Webstühle und Strumpfwirkstühle einzurichten. Die Ludditen – Rebellen, die ihren inzwischen berüchtigten Namen von einem legendären Maschinenstürmer aus Leicestershire namens Ned Ludlam ableiteten – organisierten nächtliche Angriffe auf...

 

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