Anforderungen an Medizinprodukte - Praxisleitfaden für Hersteller und Zulieferer

Johann Harer, Christian Baumgartner

Anforderungen an Medizinprodukte

Praxisleitfaden für Hersteller und Zulieferer

2021

594 Seiten

Format: PDF, ePUB

E-Book: €  69,99

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ISBN: 9783446468825

 

Einleitung

In den 1990er-Jahren wurden die wesentlichen Vorschriften in Europa betreffend Medizinprodukte [1], aktive implantierbare Medizinprodukte [2] und In-vitro-Diagnostika [3] neu geregelt. Diese waren, im Vergleich zu den in den USA geltenden Vorschriften, liberal, marktfreundlich und föderalistisch und setzten viel auf Eigenverantwortung der Hersteller. Durch einige kritische Vorfälle [4, 5] erhöhte sich jedoch der Druck der Öffentlichkeit auf die Politik, den Medizinproduktebereich (Anmerkung: Der Begriff „Medizinprodukte“ umfasst in diesem Buch, falls nicht explizit erwähnt, immer auch In-vitro-Diagnostika) strenger zu regulieren, wobei sogar eine zentrale Regelung ins Auge gefasst wurde, wie sie im Pharmabereich etabliert ist. Ausgelöst durch die oben erwähnten Probleme wurde von der EU-Kommission eine Neuregulierung des Medizinproduktebereichs in Gang gesetzt, deren Ergebnis am 5. April 2017 in Form zweier EU-Verordnungen [6, 7] im EU-Amtsblatt publiziert wurde. Auch die Rolle der zuständigen Benannten Stelle geriet bei diesen Vorfällen in Misskredit, weil lange Zeit in Diskussion war, ob diese die Mängel hätte erkennen müssen [8]. Als Reaktion darauf verschärfte die EU bereits 2013 die Zulassungsanforderungen für Benannte Stellen [9], wodurch sich deren Zahl seitdem wesentlich verringert hat (Anmerkung: Mit Stand Mai 2021 sind nur 20 Benannte Stellen nach der neuen Medizinprodukteverordnung [6] akkreditiert im Vergleich zu über 50 vor zehn Jahren. Die Anzahl Benannter Stellen, die nach der neuen In-vitro-Diagnostika-Verordnung [7] akkreditiert sind, beläuft sich sogar nur auf vier!).

Die wesentlichen Neuerungen der beiden genannten EU-Verordnungen [6, 7] sind dabei:

       Höherklassifizierung vieler Produkte, woraus ein erhöhter Aufwand für Test, Dokumentation und Berichtspflichten resultiert. So werden z. B. nach der neuen Regelung die meisten Softwareprodukte als Klasse-II-Produkt eingestuft und nicht wie bisher als Klasse I. Aber auch bestimmte stoffliche und chirurgisch-invasive Medizinprodukte werden nach der neuen MPV höher klassifiziert.

       Durch die Höherklassifizierung vieler IVDs wird die Möglichkeit zur Selbstzertifizierung stark eingeschränkt, wodurch die Mehrheit aller IVDs in Zukunft eine Benannte Stelle benötigen wird.

       Höhere Anforderungen bei der Durchführung von klinischen Prüfungen sowie eine wesentlich erweiterte Anzahl von In-vitro-Diagnostika, die sich einer Leistungsbewertungsprüfung unterziehen müssen.

       Einführung eines „Scrutiny-Verfahrens“ für Implantate der Klasse III und aktive Produkte der Klasse IIb, die Arzneimittel zuführen oder ableiten, d. h. bestimmte Hochrisikoprodukte müssen einer zusätzlichen Überprüfung durch ein Expertenpanel unterzogen werden, bevor sie auf den Markt gebracht werden dürfen.

       Zusätzliche Berichte und Pläne wie Post-Market Surveillance Plan/Report (PMS), Post-Market Clinical Follow-up Report (PMCF), Periodic Safety Update Report (PSUR), Summary of Safety and Clinical Performance (SSCP).

       Neuregelung der Marktüberwachung mit kürzeren Meldefristen.

       Verschärfte Vorschriften für Benannte Stellen und die Überwachung der Marktteilnehmer. Benannte Stellen, aber auch Behörden werden dazu angehalten, regelmäßig auch unangekündigte Audits in Unternehmen durchzuführen.

       Eine nach Risikoklassen zeitlich gestaffelte Einführung der UDI-Kennzeichnung, um eine lückenlose Rückverfolgbarkeit gewährleisten zu können.

       Aufbau einer EUDAMED-Datenbank, die alle relevanten Informationen der beteiligten Unternehmen, der Benannten Stellen, der Marktüberwachung, der klinischen Studien und Zertifikate umfassen wird.

Am 25. Mai 2017 traten die beiden Verordnungen im gesamten EU-Raum in Kraft, ohne dass es dazu einer weiteren nationalen Umsetzung bedurfte. Nach einer vierjährigen Übergangsfrist, d. h. am 26. Mai 2021, wurde die MPV für die Zulassung neuer Produkte verpflichtend. Diese Produkte können dann nicht mehr nach den bisherigen Regelungen (MDD und AIMD) zertifiziert werden. Allerdings gelten bestehende Zertifikate, die unter den alten Richtlinien ausgestellt wurden, noch maximal drei weitere Jahre. Für In-vitro-Diagnostika endet die Übergangsfrist zur Ausstellung von Zertifikaten nach der alten IVD-Richtlinie erst am 26. Mai 2022, allerdings ist auch hier die Geltungsdauer bestehender CE-Zertifikate nach der alten IVDD bis spätestens Mai 2024 limitiert (siehe Bild 1).

Bild 1 Übergangsfristen für die neuen EU-Verordnungen

Diese Übergangsfristen erschienen bei der Veröffentlichung der neuen Verordnungen ausreichend lang. Sie haben sich allerdings angesichts der umfangreichen neuen Anforderungen (wie z. B. an die klinische Bewertung von Medizinprodukten bzw. Leistungsbewertung bei IVDs, durch neue Berichtspflichten und das neue EUDAMED-/UDI-Datenbanksystem und insbesondere durch die verzögerte Akkreditierung Benannter Stellen für die neuen Verordnungen) als zu knapp bemessen erwiesen. Insbesondere die verpflichtende Umstellung auf die IVDV bis Mai 2022 wird angesichts der noch sehr geringen Anzahl an akkreditierten Benannten Stellen für die IVDV heiß diskutiert. Die neuen Vorschriften werden nach Ansicht des Bundesverbandes Medizintechnologie (BVMed) insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) stark belasten, sowohl finanziell als auch personell. Der neue EU-Rechtsrahmen wird nämlich nicht, wie anfänglich von der EU-Kommission in Aussicht gestellt, zur Vereinfachung des Inverkehrbringens von Medizinprodukten und In-vitro-Diagnostika im EU-Binnenmarkt führen, sondern die Anforderungen für die Erstzulassung und während des gesamten Lebenszyklus zum Teil wesentlich erhöhen. Die MPV enthält beispielsweise, verglichen mit der bisherigen Richtlinie, knapp 100 Artikel mehr. Die Zahl der Anhänge steigt von zwölf auf nunmehr 17. Die MPV wird außerdem durch 32 neue durchführende und weitere elf delegierte Rechtsakte ergänzt, deren Erarbeitung zum Teil noch nicht abgeschlossen ist [10]. Die striktere Regulierung ist für große Medtech- Konzerne eher verkraftbar. Allerdings wird auch hier durch den Aufwand für die Umstellung, die zukünftige Einhaltung der MPV-/IVDV-Anforderungen sowie die Ertragsausfälle durch abgesetzte Produkte, administrative Bürden und Zeitverzögerungen beim Marktzugang mit hohen finanziellen Mehraufwendungen in Milliardenhöhe gerechnet. Noch nicht geklärt ist außerdem, wo in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit die vielen zusätzlichen Mitarbeiter in den QM- und Zulassungsbereichen für die Umstellung der bestehenden QM-Systeme und Produktunterlagen sowie die Neuzertifizierung der bestehenden Produkte rekrutiert werden sollen. Es ist zu erwarten, dass es zu einer großflächigen Konsolidierung des Marktes kommen wird. Es gibt sogar Stimmen, die befürchten, dass ein Drittel aller Medtech-Firmen in Europa verschwinden wird. Speziell die kleinen Firmen werden aus dem Markt gedrängt oder zu Technologiepartnern oder Zulieferern der Großkonzerne degradiert. Aufgrund der sehr schleppenden Akkreditierung Benannter Stellen nach den neuen Verordnungen haben nach wie vor viele Unternehmen Probleme (insbesondere jene, die neu auf den Markt wollen), während der Übergangsfrist eine Benannte Stelle zu finden, wodurch es zu Verzögerungen bei der Neuzertifizierung bis hin zu Lieferstopps bei bestehenden Produkten gekommen ist und noch kommen wird.

Nachdem die Kosten für compliance nach den neuen gesetzlichen Vorschriften für bestimmte Produktgruppen ansteigen werden, werden sowohl KMU als auch große Konzerne ihr Portfolio genau überprüfen und mit großer Wahrscheinlichkeit ihr Sortiment straffen. Dabei muss im Rahmen eines Gap Assessments analysiert werden, welche Produkte, Prozesse und Dokumentationen betroffen sind. Das Produktportfolio ist dabei nach Alter, Dokumentationsaufwand, Profitabilität und anderen Kriterien zu durchleuchten, damit entschieden werden kann, welche Produkte bleiben und welche aus dem Sortiment zu nehmen oder zu ersetzen sind. Anschließend ist unter Einbeziehung aller relevanten Stakeholder der Organisation sowie der Benannten Stelle ein detaillierter Plan zur Umsetzung und Finanzierung zu erarbeiten (siehe Bild 2).

Bild 2 Überlegungen zur Umstellung des Produktportfolios auf die neuen EU-Verordnungen (© Deloitte)

Das vorliegende Buch versucht, diesen Umstellungsprozess zu unterstützen, indem es einen Überblick über das „neue“ gesetzliche und normative Umfeld für Medizinproduktehersteller und deren Zulieferer gibt und versucht, folgende Fragen zu beantworten: Welche Vorschriften existieren, wie sind sie zu interpretieren und wie stehen sie zueinander in Wechselwirkung? Ergänzend dazu folgen praktische Tipps und Hinweise, wie diese Vorschriften in der Praxis umgesetzt werden können. Dabei wird keine 100-prozentige Abdeckung der Anforderungen an Medizinproduktehersteller und deren Zulieferer angestrebt, sondern eine schwerpunktmäßige Selektion jener Themen vorgenommen, die sich aus der Erfahrung der Autorinnen und Autoren als kritisch für die Produktqualität und compliance herausgestellt...

 

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