Form- und Lagetoleranzen - Handbuch für Studium und Praxis

Walter Jorden, Wolfgang Schütte

Form- und Lagetoleranzen

Handbuch für Studium und Praxis

2017

309 Seiten

Format: PDF, ePUB, Online Lesen

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ISBN: 9783446448544

 

2 Toleranzarten und Bezüge

Für Leserinnen und Leser: Dieses Kapitel betrachtet die einzelnen Arten von Form- und Lagetoleranzen in systematischer Weise, unterstützt durch Leitregeln und garniert mit Beispielen. Dem kurzen Überblick in Kap. 2.1 folgen zunächst in Kap. 2.2 die Formtoleranzen, die die Gestalt von einzelnen Geometrieelementen eingrenzen. Zu einer Lagetolerierung dagegen gehören mindestens zwei Geometrieelemente. Das wichtige Kap. 2.3 erläutert Ihnen, wie aus bestimmten Flächen bzw. Bezugselementen am Werkstück Bezüge und Bezugssysteme gebildet werden, auf denen die Lagetolerierung und ihre Prüfung aufbauen. Kap. 2.4 beschäftigt sich mit Profiltoleranzen, die als Zwitter sowohl Form- als auch Lagetoleranzen sein können. In den Kap. 2.5 bis 2.7 werden dann die Lagetoleranzen in den drei großen Gruppen der Richtungs-, Orts- und Lauftoleranzen beleuchtet. Weil viele Fakten untereinander zusammenhängen, wimmelt es im ganzen Kap. 2 von Querverweisen. Wir haben sie in Klammern gesetzt, um die Lesbarkeit nicht zu sehr zu stören. Daher können Sie die Klammern einfach überlesen und brauchen nur dann zu blättern, wenn Sie speziell zu dem betreffenden Punkt weitere Informationen suchen.

2.1 Überblick

Gruppen: ISO 1101 enthält 14 Toleranzarten, Tabelle 2.1. Sie gliedern sich in zwei große Gruppen: Formtoleranzen beziehen sich auf ein einzelnes Geometrieelement. Von einer Lage aber kann man nur sprechen, wenn mindestens zwei Geometrieelemente beteiligt sind. Daher bezieht sich in der Regel die Lage des tolerierten Elements auf das Bezugselement; man spricht hier auch von bezogenen Toleranzen.

Profiltoleranzen können jedoch entweder als reine Formtoleranzen auftreten oder mit Bezugselementen, d. h. als Lagetoleranzen. DIN EN ISO 1101:2006 führt sie daher dreimal auf, jeweils unter Form-, Richtungs- und Ortstoleranzen. Der Übersichtlichkeit halber belassen wir sie aber als eigene Gruppe.

Die Untergliederung der Formtoleranzen in „flache“ und „runde“ steht nicht in der Norm. Wir halten sie aber für zweckmäßig, weil diese Gruppen stark unterschiedliche Merkmale aufweisen (s. u.).

Tabelle 2.1 Übersicht der FOrm- und Lagetoleranzarten

Toleranzzonen: Die Toleranzzonen der verschiedenen Toleranzarten haben generell die ideale Gestalt des tolerierten Geometrieelements. Letzteres muss vollständig in der Toleranzzone liegen (s. Kap. 1.5.1). Von ihrer Gestalt her dominieren zwei verschiedene Arten von Toleranzzonen: 

  • Geradlinige Toleranzzonen sind entweder von zwei Ebenen (im Grenzfall zwei Geraden) oder von einem Kreiszylinder („Röhrchen“) begrenzt. Sie kommen vor bei den „flachen“ Formtoleranzen, bei Richtungs- und bei Ortstoleranzen. Tolerierte Geometrieelemente sind daher Geraden (wirkliche Geraden sowie Achsen) und Ebenen (ebenfalls wirkliche sowie Mittelebenen).

  • Ringförmige Toleranzzonen liegen zwischen konzentrischen Kreisen, koaxialen Kreiszylindern u. Ä. Sie treten auf bei „runden“ Formtoleranzen und Lauftoleranzen, und zwar praktisch nur bei wirklichen Geometrieelementen mit (zumindest teilweise) kreisförmigem Querschnitt.

Daher bestehen zwischen den genannten Toleranzgruppen enge Beziehungen. Sie werden in den folgenden Kapiteln erläutert.

Kurzzeichen: Für Form- und Lagetoleranzen verwenden wir den Buchstaben t, für die entsprechenden Abweichungen f. Die einzelnen Toleranzarten werden durch Indizes gemäß Tabelle 2.1 gekennzeichnet. All diese Zeichen sind nicht genormt. Sie stimmen mit dem Beuth-Kommentar über die Prüfung von Form- und Lagetoleranzen [AbBM 90] überein. Da Maßtoleranzen aufgrund ihrer Definition den Abstand zweier gegenüberliegender Punkte spezifizieren (vgl. Kap. 1.3), gibt es dort keine von idealen Flächen oder Linien eingegrenzte Toleranzzone, s. Kap. 1.5.4). Daher verwenden wir für Maßtoleranzen den Buchstaben T.

2.2 Formtoleranzen
2.2.1 Übersicht

Toleranzarten: Die Formtoleranzen im vorliegenden Kapitel betreffen nur sog. „einfache“ Geometrieelemente, nämlich Geraden und Ebenen sowie Kreise und Kreiszylinder. Dementsprechend werden folgende Toleranzarten behandelt:

Die Form anderer Geometrieelemente wird im Rahmen des Systems von ISO 1101 mit Profiltoleranzen toleriert, s. Kap. 2.4.

Bedeutung: Eine Formtoleranz (form tolerance) soll dafür sorgen, dass ein Geometrieelement von der gedachten Idealform nur innerhalb bestimmter Grenzen abweichen darf, z. B. dass eine Blechkante, die als Anschlag dient, hinreichend gerade ist oder dass ein Wälzlagersitz hinreichend kreiszylindrisch ist. Solange wir nach dem Unabhängigkeitsprinzip (s. Kap. 1.4.2) arbeiten, bedingt die Maßtoleranz des Formelements keine Einschränkung von Formabweichungen. Geometrieelemente, deren Funktion eine bestimmte Formgenauigkeit erfordert, müssen daher mit einer entsprechenden Formtoleranzangabe versehen werden. Bei Gültigkeit der Hüllbedingung (einzeln eingetragen mittels , s. Kap. 1.4.3, oder generell beim Hüllprinzip, Kap. 1.4.4) dürfen zwar Formabweichungen den Betrag der Maßtoleranz nicht überschreiten, können ihn aber erreichen. Soweit diese Abweichungen für die Einhaltung der Funktion des Geometrieelements zu groß sind, muss zusätzlich zur Maßtoleranz eine engere Formtoleranz eingetragen werden.

Beispiel: Ein Nadellager-Innenring verträgt in einem speziellen Fall eine Maßtoleranz des Wellensitzes von 40 js6 = 40 ± 0,008 (d. h. mit Hüllbedingung). Wenn der Wellenzapfen genau kreiszylindrisch ist, dehnt sich der Innenring je nach dem Istmaß des Zapfens etwas mehr oder weniger, aber immer gleichmäßig auf; das beeinträchtigt die Lagerfunktion nicht wesentlich (nur das Spiel verändert sich). Ohne zusätzliche Zylindrizitätstoleranz dürfte der Zapfen aber auch z. B. innerhalb von 0,016 mm kegelig oder gleichdickförmig-unrund sein. Das würde dazu führen, dass einzelne Stellen des Lagerrings beim Überrollen erhöhte Pressung bekämen; damit würde die Lebensdauer des Lagers sinken. Aus diesem Grunde verlangt der Wälzlagerhersteller (entsprechend DIN 5425) eine Formtoleranz für die Zylindrizität, die etwa bei 1/3 der Maßtoleranz liegt.

Formabweichungen: Das Verständnis und die Erläuterung der einzelnen Toleranzarten gehen immer von der Toleranzzone aus. Wir erinnern hier an die Einführung in Kap. 1.5.2 mit den Regeln 1-35 bis 1-38 für die Toleranzzone, die Formabweichung, die Minimumbedingung und die Grenzabweichung. Für alle Formtoleranzen (einschließlich der Profiltoleranzen ohne Bezüge, s. Kap. 2.4) gelten folgende Regeln:

2-1 Minimumbedingung: Die Formabweichung (Istabweichung) ergibt sich nach der Minimumbedingung (mathematisch: „Tschebyschew-Kriterium“), indem Grenzflächen bzw. -linien so an das tolerierte Geometrieelement herangeschoben werden, dass sie es einschließen und ihr Abstand ein Minimum wird; dieser Abstand ist die Formabweichung f.

Die Grenzflächen bzw. -linien sind

  • bei Geradheit zwei parallele Geraden (s. Kap. 1.5.2), bzw. bei kreiszylindrischer Toleranzzone ein Kreiszylinder (Röhrchen) mit minimalem Durchmesser,

  • bei Ebenheit zwei parallele Ebenen,

  • bei Rundheit zwei konzentrische Kreise,

  • bei Zylindrizität zwei koaxiale Kreiszylinder.

2-2 Grenzabweichung: Bei allen Formtoleranzen ist die Grenzabweichung (d. h. die größte zulässige Abweichung) gleich der Toleranz t. Das Geometrieelement ist in Ordnung, wenn die Formabweichung f nicht größer ist als die Grenzabweichung, d. h. ft.

Angaben zur Prüfung von Abweichungen beziehen wir nur insoweit ein, als sie zum Verständnis der Toleranzzone und zur Anwendung der Toleranzarten förderlich sind; Vollständigkeit ist hier nicht angestrebt.

Bezüge: Die...

 

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