Der Fall Paul Kammerer - Das abenteuerliche Leben des umstrittensten Biologen seiner Zeit

Klaus Taschwer

Der Fall Paul Kammerer

Das abenteuerliche Leben des umstrittensten Biologen seiner Zeit

2016

352 Seiten

Format: ePUB

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ISBN: 9783446449411

 

 

 

Kapitel 2

 

Turbulentes Nachleben

 

Wenn jemand – neben dem Täter selbst und dem möglichen Auftraggeber – wissen konnte, wer Kammerers Geburtshelferkröte manipuliert hat, dann war das Hans Leo Przibram. Der angesehene Biologe war fast 20 Jahre lang Paul Kammerers unmittelbarer Vorgesetzter an der Biologischen Versuchsanstalt, die Przibram 1902 mitbegründet hatte. Der langjährige Institutsdirektor galt als überaus integrer und seriöser Wissenschaftler und verfolgte die Karriere seines über viele Jahre engsten Mitarbeiters aus nächster Nähe. Zudem sind alle großen experimentellen Arbeiten Kammerers, die insgesamt allein mehr als 1000 Seiten umfassen, als Berichte der Biologischen Versuchsanstalt erschienen. Aus diesen Gründen hatte Przibram, der sechs Jahre älter war als Kammerer, durch den Fälschungsskandal einiges zu verlieren. Schließlich war die Tat, die gemeinsam mit dem Selbstmord weltweites Aufsehen erregte, an seinem Institut begangen worden. War Kammerer selbst der Fälscher gewesen, dann stand auch der Ruf seiner Versuchsanstalt auf dem Spiel. War es ein Mitarbeiter gewesen, sah dies auch nicht viel besser aus.

Przibram war auch einer der Adressaten der sechs bekannten Abschiedsbriefe Kammerers.1 In diesem erst spät wieder aufgetauchten Schriftstück vermittelte der lebensmüde Forscher den Eindruck, dass er durch die 1926 erhaltene Professur in Moskau in eine Art Midlife-Crisis geschlittert sei: Er sei zu alt, alle Versuchsreihen noch einmal von neuem zu beginnen und zu wiederholen, bekannte Kammerer: »Ich könnte mich nicht damit abfinden und kein Glück mehr darin sehen zu wiederholen, was mir durch die Umstände zum Ekel wurde.« Er deutete auch noch eine private Angelegenheit als Tatmotiv an:

 

»Der andere Grund ist der, dass mir gerade in diesen Tagen eine persönliche Unwahrhaftigkeit nachgewiesen wurde, in der ich nicht so unschuldig bin wie in der wissenschaftlichen. Ich habe es aber nie vermocht, den Forscher und den Menschen vollständig zu trennen. Wo der eine strauchelt, da tut es auch der andere.«2

 

Doch Kammerer, der mit Przibram bis zuletzt per Sie blieb und dessen Verhältnis zum Institutsleiter eher ein freundlich-distanziertes war, stellt in dem Brief klar, dass er keinesfalls der Täter gewesen sei:

 

»Im Begriffe, das verfehlte Leben wegzuwerfen, will ich Ihnen nochmals danken und erklären, dass ich meine Versuche, wie sie beschrieben wurden, auch wirklich gemacht habe. Im Einzelnen mag manches versehen worden sein, in Situationen, denen ich bei meiner durch das harte Leben verursachten Nervosität nicht gewachsen war. […] Aber ein Fälscher bin ich nicht gewesen.«3

 

Als drei Wochen nach dem Selbstmord der Verdacht ausgesprochen wurde, dass Kammerer selbst mit Tusche seine Ergebnisse verbessert hätte, berief man an der Akademie der Wissenschaften in Wien eine Sitzung ein. Der Gelehrtengesellschaft war an einer dringenden Aufklärung des Falls gelegen, da die Biologische Versuchsanstalt seit 1914 unter ihrer Aufsicht stand. Zudem war der Akademie und der Universität in den russischen Zeitungsberichten eine gewisse Mitschuld an Kammerers tragischem Schicksal gegeben worden. Nach dieser Sitzung am 21. Oktober 1926 forderte Richard von Wettstein, der Vorstand des BVA-Kuratoriums, Przibram auf, zu den Geschehnissen Stellung zu nehmen, was postwendend geschah.4

In seinem Schreiben legte der BVA-Leiter und Vorstand der zoologischen Abteilung seine Sicht der Vorfälle offen dar, musste aufgrund der unklaren Verdachtslage jedoch viele Fragen unbeantwortet lassen: Er könne schon deshalb keinen »bestimmten Verdacht wegen der Tatenschaft an einer Fälschung« aussprechen, weil weder der Zeitpunkt noch die Absicht, in der die Veränderung des Präparates geschehen sein mochte, sich hätten ermitteln lassen.

 

»Zugänglich war das Alytespräparat während des Aufenthalts in der Anstalt, wie andere Präparate, den Leitern, Assistenten und zeitweise den Dienern, sofern ihnen der Schlüssel zu den Museumskästchen anvertraut war. Außerhalb der Anstalt befand sich das Objekt zu Zwecken der Photographie, zu Demonstrationen, im Jahr 1923 14 Tage oder länger in England. Dazu kommt, dass mehrere Personen, welche hätten vielleicht Aufschlüsse geben können, schon verstorben sind.«5

 

Leider sei die ganze Angelegenheit zu mysteriös, um sich rasch erledigen zu lassen, resümierte Przibram, der zugleich versicherte, alle seine Angaben durch entsprechende Nachweise und Dokumentationen bestätigen zu können. Falls sich von Wettstein für die Belege interessiere, so wollte Przibram mit denselben zu ihm kommen, »da ich ohnehin noch gerne darüber sprechen möchte. Mündlich lässt sich erörtern, was man schriftlich nicht niederlegen kann […]«.6

Die Akademieleitung war von Przibrams Erklärungen enttäuscht. Das wusste auch Przibram selbst, der in den folgenden Wochen und Monaten nichts unversucht ließ, den Fall zu klären, der ihn und sein Institut so schwer belastete. Er reiste auf den Spuren der Präparate sogar nach England und Frankreich, um Anhaltspunkte zu finden. Doch alle Recherchen erwiesen sich als fruchtlos, wie aus einem Brief hervorgeht, den der BVA-Leiter mehr als drei Jahre nach Kammerers Selbstmord an den Botaniker Hugo Iltis schickte.7 Der Gründer und Leiter der Masaryk-Volkshochschule in Brünn, der 1924 die erste Biographie Gregor Mendels verfasst hatte, war mit Kammerer eng befreundet gewesen, teilte die meisten seiner (bio-)politischen, aber keineswegs alle wissenschaftlichen Ansichten, und trug sich mit der Absicht, auch seinen verstorbenen Kollegen mit einer Biographie zu würdigen.8

Przibram erklärte in dem Schreiben an Iltis, dass ihn »diese Fälschungsangelegenheit und die falschen Angaben« sehr aufregten. Leider sei es ihm bisher trotz aller Bemühungen nicht gelungen, Licht in die Sache zu bringen. Die Aufklärung der entscheidenden Frage, wer die Tusche injiziert habe, schien ihm unmöglich: »Dieser Kernpunkt ist es, welchen ich und andere bisher vergeblich klarzustellen versucht haben. So kann man vorläufig nur wiederholen: Es ist nicht erwiesen, dass Kammerer selbst es getan hat und umso weniger, dass er es als absichtliche Fälschung getan hat.« Logische Schlussfolgerung Przibrams: »Solange keine Aufklärung der Schwärzung der Präparate vorliegt, halte ich eine Kammerer-Biographie oder einen sonstigen Schritt zu seiner Ehrung für ausgeschlossen.«9

Dieser Brief von Przibram muss alle Wissenschaftshistoriker, die an der Aufklärung des Falls interessiert sind, zur Verzweiflung treiben. Denn wenn selbst der Mentor und unmittelbare Vorgesetzte Kammerers trotz aller Nachforschungen vor einem bleibenden Rätsel stand, wie sollte sich der Fall dann je klären lassen? Es gibt allerdings auch einen Hoffnungsschimmer, der mit Hans Przibram verbunden ist. Angeblich hat der Zoologe in privaten Gesprächen wiederholt versichert, dass er zu wissen glaube, wer die Manipulation vorgenommen haben könnte. Daran erinnerte sich zumindest sein Bruder, der Physiker Karl Przibram, der ein ebenso angesehener Forscher war. Hans habe mit seinem Verdacht aber nicht an die Öffentlichkeit gehen können, da ihm eindeutige Beweise fehlten, so Karl Przibram.10 Die Diskretion innerhalb der Familie ging so weit, dass der Physiker selbst viele Jahrzehnte nach dem Vorfall und nach Hans Przibrams tragischem Tod im KZ/Ghetto Theresienstadt keine Andeutungen machen konnte oder wollte.11

Weniger Zurückhaltung und Skrupel, einen (fiktiven) Täter zu nennen, der Kammerers Forschungen diskreditierte, hatte – wie bereits geschildert – der sowjetische Volkskommissar für Aufklärung, Anatoli Lunatscharski. Mit seinem Drama über Kammerer stehen wir zugleich am Beginn eines höchst turbulenten Nachlebens: Kammerers Werk wurde posthum zu einem Spielball inmitten der großen ideologischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts. Zugleich prägte Kammerer durch seinen Selbstmord die Biologiegeschichte mit – im Grunde bis in die jüngste Gegenwart, in der insbesondere die Erkenntnisse der Epigenetik die mehr als 100 Jahre alten Experimente in einem neuen Licht erscheinen lassen.

Auch wenn der 86 Minuten lange Spielfilm in der Sowjetunion eher ambivalente Kritiken erhielt, kam Salamandra beim russischen Publikum allem Anschein nach recht gut an.12 In Deutschland allerdings wurde der hochpolemische Streifen, der von der Berliner Firma Prometheus Film koproduziert wurde und in der deutschen Fassung den Titel Falschmünzer tragen sollte, noch vor seinem Kinostart Anfang 1929 prompt verboten.13 Die Begründung der Filmprüfstelle lautete wie folgt:

 

»Wegen der Herabsetzung deutscher Verhältnisse in Staat, Kirche und Wissenschaft erblickte die Kammer […] den Verbotsgrund der Gefährdung des deutschen Ansehens als gegeben. Sie betrachtete den Bildstreifen als ein gegen Deutschland gerichtetes Pamphlet, in dem das Problem ›Wissen und Glaube‹ überhaupt nicht behandelt wird, sondern die übelsten Mächte sich verbünden, um gegen die freie Forschung anzustürmen. Dass ein Vertreter der Kirche in diesem Bündnis als Führer scheint, hielt sie für geeignet, das religiöse Empfinden zu verletzen.«14

 

 

Sowjetisches Plakat zu Salamandra, oben auf:

Zange alias Kammerer, darunter seine sowjetische Assistentin

und unten die Verschwörer.

(Abb.: Russische Staatsbibliothek, Moskau)

 

Das Verbot bewirkte wie so oft das Gegenteil und erregte internationales Aufsehen, war es...

 

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