Gefährliche Bürger - Die neue Rechte greift nach der Mitte

Liane Bednarz, Christoph Giesa

Gefährliche Bürger

Die neue Rechte greift nach der Mitte

2015

220 Seiten

Format: ePUB

E-Book: €  6,99

E-Book kaufen

E-Book kaufen

ISBN: 9783446444621

 

EINLEITUNG


Irgendetwas ist anders als früher. Es war ein schleichender Prozess, aber das Ergebnis ist eindeutig: Die Stimmung in der Gesellschaft hat sich eingetrübt. Die großen politischen Debatten werden mit einer lange nicht erlebten Emotionalität geführt. Spott und Häme, gar Hass und eine bisher ungekannte Aggressivität prägen den Diskurs. Vielfach werden gar grundsätzliche Errungenschaften unserer demokratischen Gesellschaftsordnung in Frage gestellt. Wer darf zu unserem Gemeinwesen gehören? Wer hat welche Rechte? Wer darf mitreden und wer nicht? Die Repolitisierung weiter Teile der gesellschaftlichen Mitte ist deutlich zu spüren – aber sie hat sich anders vollzogen, als wir uns das erhofft hätten. Nicht etwa mehr Engagement oder steigende Wahlbeteiligungen sind zu beobachten. Es sind harsche Emotionen, die viel Widerhall im vorpolitischen Raum, etwa auf Lesungen und Vorträgen, bei Demonstrationen und Mahnwachen, in Internetforen und in den sozialen Medien finden. Dort kann man das Wiederaufflammen eines von rechts kommenden Menschenhasses erkennen – gerichtet gegen jeden, der irgendwie für »das System« steht oder von diesem geschützt wird. Egal ob es sich dabei um Politiker oder Journalisten handelt, um Muslime oder Juden, ausländische Fachkräfte oder Asylbewerber – die Brutalität und die Offenheit, mit der auf Veranstaltungen und im Internet radikale Positionen vertreten werden, erschreckt. Ähnlich wie während der Pogrome in Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda Anfang der 1990er-Jahre schämt man sich seines Hasses nicht, im Gegenteil. Es scheint, als fühle man sich mit seinen Äußerungen sogar im Recht.

Was ist also los in unserer Gesellschaft? Handelt es sich nur um ein vorübergehendes Phänomen? Oder steckt mehr dahinter? Wer sind diese Menschen, die sich rechtes Gedankengut bewusst oder unbewusst zu eigen machen und es verbreiten? Ist das, was lange ganz rechts außen gärte, in der Mitte der Gesellschaft angekommen, salonfähig geworden?

Diese Fragen beschäftigen uns seit geraumer Zeit. Die Idee zu diesem Buch entwickelten wir bereits Anfang 2014. Zu diesem Zeitpunkt standen die ersten Wahlerfolge der Alternative für Deutschland (AfD) noch aus. Und als der Verlagsvertrag unterzeichnet wurde, gab es Pegida, die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« noch gar nicht. Diese Entwicklungen überraschen uns und viele andere aufmerksame Beobachter allerdings nicht; sie zeigen vielmehr, dass wir uns nicht getäuscht hatten und sich das rechte Milieu für eine Infiltration der bürgerlichen Mitte rüstet. Es war nur eine Frage der Zeit, bis erste Erfolge zu verzeichnen waren und die jahrzehntelange Vorarbeit sich auszahlte.

Die Protagonisten einer neuen rechten Denkschule haben ihre passive Haltung aufgegeben. Sie waren nie wirklich gänzlich tatenlos. Aber nun beschränken sie sich nicht mehr auf das, was sie in ihren Kreisen »Brauchtumspflege« oder »Bewahrung von Traditionen« nennen, um doch etwas ganz anderes zu meinen: nämlich den Fortbestand einer völkischen, nationalen Deutschland-Idee im Unter- oder Hintergrund. Inzwischen treten sie zunehmend aus den weithin unbeleuchteten Nischen der Gilden, Burschenschaften, Salons und Gesprächszirkel, Bürgerinitiativen und Jugendorganisationen heraus. Mit dem Ziel, eine aggressive Gegenideologie zu unserer offenen Gesellschaft ins Gespräch zu bringen. Die Zeit dafür scheint reif. Denn ihr »Feind« – ebenjene offene Gesellschaft, die sich den Idealen der Aufklärung verpflichtet fühlt – befindet sich ganz offensichtlich in einer Sinnkrise.

Wer sind diese Menschen, deren Parolen und Überzeugungen in den gesellschaftlichen Diskurs eingesickert sind? Wie ticken sie, was ist ihnen wichtig und was haben sie vor?

Um diese Fragen beantworten zu können, ist es notwendig, sich mit ihren Vordenkern auseinanderzusetzen, ihre Diskussionen zu belauschen und die Publikationen zu lesen, die in diesen Kreisen als maßgeblich erachtet werden. Genau das haben wir in den vergangenen Monaten getan. Vieles, was man dort findet, spricht für sich. Anderes lässt sich erst im Kontext verstehen, weil gewisse Sprach- und Argumentationscodes angewandt werden, mit deren Hilfe die wahren Absichten verschleiert werden. Um so Anknüpfungspunkte zur Mitte der Gesellschaft zu schaffen. Nicht mit offen zur Schau gestellter Radikalität wird agiert, sondern subtiler und mit vermeintlich konsensfähigen Ideen.

Die Übersetzung dieser Codes und die Einordnung des dahinterstehenden Gedankenguts wird ein zentraler Aspekt dieses Buches sein, das ohne weiteres den Umfang eines Lexikons haben könnte. Im Stile einer Doktorarbeit könnten wir tausende Belege aneinanderreihen, die lückenlos das dokumentieren, was wir mit zunehmender Sorge beobachten: Eine gut vernetzte, immer besser organisierte, strategisch geschulte Gruppe von stramm rechten Intellektuellen bemüht sich, unsere offene Gesellschaft nach rechts zu ziehen. Leider mit zunehmenden Erfolg. Lexika und wissenschaftliche Abhandlungen haben allerdings einen entscheidenden Nachteil: Sie werden nur von sehr wenigen Menschen gelesen – und sie erreichen vielleicht den Kopf, selten aber den Bauch und das Herz der Leser. Wir wollen mit diesem Buch genau das schaffen: Sie zum Nachdenken animieren und Ihr demokratisches Herz treffen. Wir wollen uns den Agitatoren entgegenstellen, und zwar mit der spitzen Feder, einer klaren, leicht verständlichen Sprache und einer Portion Spott. Wir wollen sie entlarven und Sie als Leser nicht nur informieren, sondern auch aufrütteln.

Eines sei vorweg gesagt: Dieses Buch ist nicht aus einer linken Weltsicht heraus geschrieben. Ganz im Gegenteil: Wir Autoren spannen den politischen Rahmen dessen, was in der Regel als »bürgerlich« verstanden wird, ziemlich breit auf. Liane Bednarz ist bekennende Konservative, Mitglied der CDU, überzeugte Christin und unter anderem Autorin der katholischen Tagespost. Christoph Giesa ist Vertreter eines gesamtheitlichen Liberalismus in der FDP, protestantisch erzogen, aber aus Überzeugung aus der Kirche ausgetreten. In konkreten politischen Fragen liegen unsere Positionen oftmals Welten auseinander, sei es nun zum Thema Abtreibung, Gentechnik oder der Trennung von Kirche und Staat. Doch uns verbindet der Glaube an die Ideen der Aufklärung, an die westliche Demokratie – und an die Notwendigkeit, auf dieser Basis in einem dauernden Ringen, aber mit Respekt vor den Argumenten und der Person des Gegenübers, zu zukunftsfähigen Lösungen zu kommen. Unsere Gesellschaft steht vor vielen Herausforderungen, die zu meistern nicht einfach sein wird. Je komplexer die Welt und ihre Probleme uns erscheinen, umso stärker ist der Wunsch nach vermeintlich einfachen Lösungen. Genau das haben die Vordenker der neuen rechten Bewegung, die wir beschreiben, erkannt und sich zunutze gemacht. Für manche Leser mag das, was wir in den folgenden Kapiteln beschreiben, hysterisch anmuten. Vor drei Jahren hätten wir vermutlich selbst noch den Kopf geschüttelt, hätte uns jemand vor rechten Agitatoren gewarnt, die langsam, aber sicher die Hoheit über den gesellschaftlichen Diskurs gewinnen. In der Zwischenzeit ist allerdings viel passiert. Bis dato für undenkbar gehaltene neue Allianzen haben sich gebildet. Rechte Verschwörungstheoretiker und Esoteriker finden auf »Friedensdemos« ebenso ihren Resonanzraum wie Antisemiten und Putin-Apologeten. Lesungen von Autoren wie Thilo Sarrazin oder Akif Pirinçci erfreuen sich regen Zulaufs; deren Werke im Bücherschrank stehen zu haben, kommt einem gesellschaftlichen Statement gleich: Hier sind endlich mal zwei, die sagen, wie es wirklich ist! Die sich trauen, den Mund aufzumachen. Rechte Christen finden zusammen mit völkischen Heiden und Propheten, die den Untergang des Abendlandes voraussagen, vereint in einer Sehnsucht nach einer bereinigenden gesellschaftlichen Apokalypse, die Raum schafft für eine Neuausrichtung. Die einzelnen Szenen vernetzen sich immer effektiver untereinander – und in der Mitte agieren AfD und Pegida als Gravitationszentrum für alle freien Radikalen gleichermaßen.

Um es klar zu sagen: Wir sehen nicht die Gefahr einer Machtübernahme durch Springerstiefel tragende Neonazis, die in Deutschland einen neuen Nationalsozialismus etablieren wollen. Wir wollen allerdings davor warnen, dass manche der menschenverachtenden Gesellschaftsvisionen, die schon in den 1920er-Jahren en vogue waren, hundert Jahre später heimlich still und leise wieder salonfähig werden und das gesellschaftliche Klima vergiften. Denn neofaschistische, völkische und antidemokratische Gedanken sind – auch wenn sie so geäußert werden, dass sie sich noch im Rahmen der Meinungsfreiheit bewegen – deshalb noch lange nicht akzeptabel oder erträglich. Sie sind gefährlich.

Die AfD ist nur das sichtbarste Symptom einer nach rechts driftenden, sich radikalisierenden Mitte – die das noch nicht einmal immer bemerkt. Viele derjenigen, die mit dieser Partei sympathisieren, würden empört jegliche Form von Radikalismus oder gar Extremismus von sich weisen. Sie verweisen dann gerne auf ausländische Freunde und vielleicht sogar auf ihre pro-israelische Gesinnung. Und leben unter diesem Deckmäntelchen ihren Hass aus, ungefiltert, gegen alles und jeden, das oder der ihnen gegen den Strich geht. Es ist eine Mischung aus Naivität und Aggressivität, begünstigt durch Überforderung und Unzufriedenheit und das Wegbrechen von klaren gesellschaftlichen Leitplanken. Eine explosive Gemengelage, in der die Parolen professionell agierender Verhetzer vielfach auf offene Ohren stoßen. In solch einem Umfeld kann man schleichend zum gefährlichen...

 

© 2009-2024 ciando GmbH