Time for Change - Wie ich meiner Tochter die Wirtschaft erkläre

Yanis Varoufakis

Time for Change

Wie ich meiner Tochter die Wirtschaft erkläre

2015

180 Seiten

Format: ePUB

E-Book: €  10,99

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ISBN: 9783446445253

 

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Warum gibt es so viel Ungleichheit?


Wieso sind die australischen Aborigines
nicht in England eingefallen?


Alle Babys kommen gleich nackt zur Welt. Aber schon bald werden manche von ihnen in teure Kleidung aus Luxusläden gesteckt, während die große Mehrzahl eher Lumpen trägt. Wenn sie ein bisschen größer geworden sind, rümpfen die einen regelmäßig die Nase, wenn ihnen Verwandte und Paten noch mehr zum Anziehen schenken, während sie selbst lieber andere Geschenke hätten, und die anderen träumen davon, dass sie eines Tages in Schuhen zur Schule gehen können, die keine Löcher haben.

Das ist die eine Seite der Ungleichheit, die unsere Welt bestimmt. Du hörst vielleicht etwas von dieser Ungleichheit, aber du bist nicht damit konfrontiert. Denn in deine Schule gehen keine Kinder, die wie die bedrückende Mehrzahl zu einem Leben verurteilt sind, das von Entbehrungen und sogar von Gewalt gezeichnet ist. Zumindest theoretisch ist dir allerdings schon bewusst, dass es den meisten Kindern auf der Welt nicht so gut geht wie dir und deinen Mitschülern, das weiß ich. Neulich hast du mich gefragt: »Warum gibt es so viel Ungleichheit?« Mit meiner Antwort war … nicht einmal ich zufrieden. Insofern hoffe ich, du erlaubst mir, dass ich es noch einmal versuche, und diesmal habe ich eine eigene Frage.

Du lebst in Sydney, und deshalb gibt es in deiner Schule viele Unterrichtsstunden und Veranstaltungen zu den Aborigines – über das Unrecht, das man ihnen zugefügt hat, über ihre Kultur, die die britischen weißen Kolonialherren zwei Jahrhunderte lang mit Füßen getreten haben, über die Armut, in der sie empörenderweise heute noch leben. Hast du dich aber jemals gefragt, wieso die Briten in Australien eingefallen sind und den Aborigines ohne weitere Umstände das Land geraubt haben (und sie im Grunde damit vernichtet haben) und wieso sich nicht das Umgekehrte abgespielt hat? Wieso sind nicht Aborigines-Krieger in Dover gelandet und schnell nach London vorgedrungen und haben dabei jeden Engländer umgebracht, der sich ihnen zu widersetzen wagte? Ich wette, in deiner Schule hat kein Lehrer an so eine Frage auch nur zu denken gewagt.

Die Frage ist aber wichtig. Wenn wir sie nicht ausführlich beantworten, laufen wir Gefahr, gedankenlos zu akzeptieren, dass die Europäer letztlich klüger und fähiger waren. Das umgekehrte Argument, dass die australischen Aborigines bessere Menschen waren und deshalb nicht selbst zu herzlosen Kolonialisten geworden sind, ist nicht überzeugend. Der einzige Weg, das zu beweisen, hätte vorausgesetzt, dass sie imstande waren, große Ozeanschiffe zu bauen, und auch die nötigen Waffen und die Kraft hatten, die englische Küste zu erreichen und das britische Heer zu schlagen, und dass sie sich trotzdem entschlossen hätten, die Engländer nicht zu versklaven und ihnen auch nicht in Sussex, Surrey und Kent ihr Land wegzunehmen.

Insofern bleibt die Frage weiter zentral: Warum gibt es so viel Ungleichheit zwischen den Völkern? Sind manche Völker klüger als andere? Oder gibt es vielleicht etwas anderes, was nichts mit Abstammung oder menschlicher DNA zu tun hat, als Erklärung dafür, dass du in den Straßen deiner Stadt nie die Armut gesehen hast, die dir auf einer Reise durch Thailand begegnen würde?

Märkte sind nicht dasselbe wie Wirtschaft


In der Gesellschaft, in der du aufwächst, herrscht die irrige Meinung, dass Wirtschaft und Märkte dasselbe seien. Aber was genau sind denn Märkte? Sie sind eine Sphäre des Austauschs. Im Supermarkt füllt man den Einkaufswagen mit Gegenständen und »tauscht« sie gegen Geld, das später gegen andere Dinge eingetauscht wird, die derjenige haben will, der es einnimmt. Das kann der Besitzer des Supermarkts sein, der Mitarbeiter im Supermarkt, der von dem Geld seinen Lohn bekommt, das wir an der Kasse bezahlen, und so weiter. Wenn es kein Geld gäbe, müssten wir dem Verkäufer andere Güter überlassen, die für ihn wichtig sind. Deshalb sage ich, der Markt ist der Ort, an dem der Tauschverkehr stattfindet. Und dieser Ort kann mittlerweile auch digital sein – wie zum Beispiel dann, wenn du mich dazu bringst, dir Apps bei iTunes oder Bücher von Amazon zu beschaffen.

Ich sage das, weil die Menschen schon Märkte hatten, als sie noch auf den Bäumen lebten, bevor wir den Ackerbau entdeckten. Wenn einer unserer Vorfahren einem anderen eine Banane anbot und dafür einen Apfel wollte, war das eine Form des Austauschs; ein unvollkommener Markt, bei dem eine Banane den Preis für einen Apfel darstellte und umgekehrt. Aber es war keine richtige Wirtschaft. Damit eine richtige Wirtschaft zustande kam, war etwas Weiteres nötig: dass die Menschen zu produzieren anfingen, anstatt einfach nur Tiere zu jagen, Fische zu fangen und Bananen zu pflücken.

Zwei große Sprünge nach vorne:
Sprache und Überschuss


Vor ungefähr 82 000 Jahren machten die Menschen den ersten großen Sprung nach vorne: Es gelang ihnen, die Stimmbänder so einzusetzen, dass sie nicht nur unartikulierte Schreie von sich gaben, sondern eine Sprache. 70 000 Jahre später (also vor etwa 12 000 Jahren) machten sie den zweiten großen Sprung: Es gelang ihnen, den Boden zu kultivieren. Die Sprache und die Fähigkeit, Nahrung zu produzieren, statt nur zu schreien und das zu verzehren, was uns die Natur bot (Wildtiere, Nüsse oder Früchte), haben das hervorgebracht, was wir Wirtschaft nennen.

Heute, 12 000 Jahre nach der »Erfindung« der menschlichen Fähigkeit, die Erde zu kultivieren, haben wir allen Grund, diesen Augenblick wirklich historisch zu nennen: Es gelang dem Menschen zum ersten Mal, sich nicht auf die Großzügigkeit der Natur zu verlassen, sondern er lernte, sie unter Mühen dazu zu bringen, für ihn Güter zu produzieren. War das ein Augenblick der Freude und Begeisterung? Auf gar keinen Fall! Der einzige Grund, weshalb die Menschen gelernt haben, die Erde zu bestellen, war der Hunger. Nachdem sie durch ihre findigen Jagdmethoden die meisten Wildtiere ausgerottet und sich so stark vermehrt hatten, dass die Früchte der Bäume nicht mehr für sie ausreichten, zwang sie der schiere Hunger, sich Methoden des Ackerbaus auszudenken.

Wie bei allen technischen Revolutionen hatten wir auch hier keine bewusste Entscheidung in diese Richtung getroffen. Die Anbautechnik, die Agrarwirtschaft, sie hatten sich einfach ergeben. Und mit ihr wandelten sich ohne unser ausdrückliches Zutun die menschlichen Gesellschaften. Die landwirtschaftliche Produktion schuf erstmals das wesentliche Element einer echten Wirtschaft: den Überschuss. Aber was ist das? Es ist ein Produkt der Erde, das nicht nur ausreicht, einen zu ernähren und das Saatgut zu ersetzen, das im selben Jahr ausgebracht (und im Jahr davor aufgespart) wurde, sondern das darüber hinausgeht und so eine Vorratshaltung für den späteren Gebrauch erlaubt: zum Beispiel Getreide, das entweder für eine schlechte Zeit – wie etwa bei der Zerstörung der nächsten Ernte durch Hagelschlag – gelagert wird, oder um es als zusätzliche Saat zu benutzen, die im nächsten Jahr in die Erde kommt und auf diese Weise den künftigen Überschuss weiter vermehrt.

Hier musst du auf zwei Dinge achten. Erstens, dass Jagen und Fischen und das Sammeln von Nüssen und Früchten kaum einen Überschuss hervorbringen konnten, denn die Fische, Hasen und Bananen waren nach kurzer Zeit nicht mehr genießbar oder verfault, im Gegensatz zum haltbaren Getreide, Mais, Reis und der Gerste. Zweitens, dass die Erzeugung von landwirtschaftlichem Überschuss folgende Wunder der Gesellschaft erschuf: Schrift, Schulden, Geld, Staaten, Heere, Priester, Bürokratie, Technik und sogar die erste Form eines biochemischen Krieges. Lass es uns der Reihe nach betrachten …

Schrift


Von den Archäologen wissen wir, dass die erste Form einer Schrift in Mesopotamien aufgetaucht ist. Was wurde damit aufgezeichnet? Es wurden die Getreidemengen festgehalten, die jeder Bauer im gemeinsamen Vorratslager deponiert hatte. Das ist einleuchtend: Wenn jeder Bauer ein eigenes Lager zur Speicherung seiner Vorräte hätte bauen müssen, wäre es kompliziert geworden; es war wesentlich einfacher, ein gemeinsames Lager unter der Kontrolle eines Verwalters zu haben, in dem man die Ernte unterbringen konnte. Für diese Form der Organisation brauchte man allerdings einen Nachweis, zum Beispiel, dass Herr Nabuk 100 Kilo ins Lager »eingezahlt« hatte. Die erste Schrift wurde also tatsächlich geschaffen, damit jeder nachweisen konnte, welche Menge ihm im gemeinsamen Lager gehörte. Es ist kein Zufall, dass Gesellschaften, die keine landwirtschaftliche Kultur entwickeln mussten, da ihnen mehr als ausreichend Wild und Früchte zur Verfügung standen (wie den Aborigines in Australien und den Ureinwohnern in Nordamerika), sich mit Malerei und Musik begnügten und nie eine Schrift erfanden.

Schulden und Geld


Die schriftliche Verbuchung der Erntemengen wie etwa des Weizens, der unserem Freund Nabuk gehörte, steht am Beginn der Erschaffung von Schulden und Geld. Man weiß, wieder über archäologische Funde, dass viele Arbeitskräfte mit Muscheln bezahlt wurden, auf denen Zahlen standen; sie entsprachen den Getreidemengen, die ihnen der Herrscher für die auf den Feldern verrichtete Arbeit schuldete. Das Getreide, auf das sich die Zahlen bezogen, war möglicherweise noch gar nicht ausgehändigt worden, und so verkörperten diese Muscheln etwas wie Schulden des Herrschers gegenüber den Arbeitskräften. Gleichzeitig waren sie auch eine Art Geld, denn die Arbeitenden konnten diese Muscheln dazu benutzen, bei anderen Leuten Produkte...

 

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