Die unglaubliche Kraft der Farben

Jean-Gabriel Causse

Die unglaubliche Kraft der Farben

2015

200 Seiten

Format: ePUB

E-Book: €  10,99

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ISBN: 9783446444768

 

KAPITEL 2


FARBEINFLÜSSE


Nehmen wir einmal den skrupellosten und unsensibelsten Menschen überhaupt … Zufällig fällt die Wahl auf Norman Bates in Psycho von Hitchcock. Nun, er reagiert besonders empfindlich auf Farben. Und zwar auf sämtliche Farben, nicht bloß auf Blutrot. Wissenschaftler sind sich heutzutage einig: »Der Mandelkern des Gehirns beeinflusst die kognitive Verarbeitung von Informationen durch ein Phänomen, das den Affekt auf andere Bereiche überträgt und somit eine physiologische Aktivierung zur Folge hat.«26 Auf gut Deutsch heißt das, dass die Wissenschaftler im Gehirn herumgekramt und dabei gesehen haben, dass es wie ein Weihnachtsbaum von Farben beleuchtet wird und uns unbewusst zu Handlungen verleitet. Man hat herausgefunden, dass unterschiedliche Zonen aktiviert werden, je nachdem ob Farben kalt oder warm sind.27 Das Gehirn lässt uns die Realität wahrnehmen und auf sie reagieren, ohne dass wir es bewusst mitbekommen.28

Sogar bei geschlossenen Augen haben Farben einen Einfluss auf den Menschen! Die Haut und die Retina verfügen nämlich über eine vergleichbare Lichtempfindlichkeit.29 Ja, unsere Haut reagiert empfindlich auf Farben! Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass unsere Oberhaut auf bestimmte Wellenlängen reagiert, von UV-Strahlen beispielsweise bekommen wir einen Sonnenbrand. Aber wer weiß schon, dass die »sichtbaren« Wellenlängen, also die Farben, auch einen Einfluss auf unsere Haut haben?

Wenn man der traditionellen chinesischen Philosophie des Nèijīng Sùwèn glaubt, einem fast 5000 Jahre alten Buch, nimmt der Mensch mit der Haut proportional genauso viele Feinstoffe auf wie mit dem Verdauungstrakt.

Einer der Ersten, der sich für Farbeinflüsse auf unsere Haut interessierte, war Jules Romain. Bevor er Schriftsteller wurde, arbeitete er als Biologe und erforschte etwas, das er »vision extra-rétinienne«, also in etwa »Sehen ohne Beteiligung der Netzhaut« nannte. Unter bestimmten Bedingungen könnte man Temperaturunterschiede von farbigen Objekten oder Oberflächen »fühlen«. Dis gelte insbesondere für Blinde und vorwiegend für die Unterscheidungen zwischen Rot und Gelb. Diese These ist in wissenschaftlichen Kreisen äußerst umstritten.

1934 wurde eine kontroverse Analyse durchgeführt, die aussagte, dass eine Stimulierung der Haut mit verschiedenen Farben (bei verbundenen Augen) unterschiedliche Effekte hatte.30

Klinische Versuche haben gezeigt, dass der Einfluss von Farben bei neurotischen und psychotischen Patienten besonders stark ist. Zahlreiche weitere Studien bestätigen mithilfe der Elektroenzephalografie, dass die Farbe Rot für einen schnelleren Puls, höheren Blutdruck, einen erhöhten Hautwiderstand, schnellere Atmung, mehr Lidschläge als normalerweise und eine Verringerung der Alpha-Wellen sorgt. Kurzum, diese Unterschiede sind bedeutsam, ebenso wie folgende Zahlen: In einer roten Umgebung erhöht sich die bioelektrische Aktivität im Körper um 5,8 Prozent und die Muskelkraft um 13,5 Prozent, das ist schon beachtlich.31 Ein Grund mehr, sich vor Zeitgenossen, die »rot sehen«, in Acht zu nehmen …

Ebenso ist erwiesen, dass gewisse Migränearten oder Epilepsieanfälle von bestimmten Frequenzen (rotes Blinken) ausgelöst werden. Farben beeinflussen gleichzeitig unseren Biorhythmus und die Melatoninausschüttung, bei der Farbe Türkis ist der Einfluss besonders stark (wir werden das später noch genauer betrachten, wenn wir uns mit dem Einfluss des Lichts befassen).

Farben haben außerdem eine Wirkung auf das Gehör, besonders dann, wenn die Töne unangenehm sind. Es wurde gezeigt, dass gewisse Klänge mit Farben in Verbindung gebracht und somit vom Gehirn gemeinsam verarbeitet werden.32 In einer lauten Umgebung mit einem hohen Frequenzbereich (hohe Töne) bevorzugt der Mensch dunkle Farben, bei tiefen Frequenzen (tiefe Töne oder Infraschall) sehnt man sich eher nach hellen Farbtönen.33

Zu diesen physiologischen Einflüssen (zum Beispiel bei geschlossenen Augen) kommen noch psychologische Einflüsse, die vom Sehvermögen ausgelöst werden.

Zeit zum Beispiel vergeht in einem Raum mit warmen Farben wie etwa Orange oder Rot schneller.34 Andererseits erscheint vor dem Computerbildschirm die Downloadzeit kürzer, wenn sie von kalten Farben begleitet wird.35

Die Raumfarbe hat einen großen Einfluss auf die Wahrnehmung der Zimmertemperatur. Bei einem hauptsächlich rot-orangen Arbeitsraum wird die Raumtemperatur im Vergleich mit einem blau-grünen Zimmer um 3 bis 4° Celsius wärmer eingeschätzt.36

Diese Studien über Farben und Temperaturwahrnehmung sind langsam bis in die Bergwelt vorgedrungen. Die chinesischen und tibetischen Alpinisten, die 2008 mit dem olympischen Feuer den Mount Everest bestiegen, konnten sich nicht bloß an der Flamme aufwärmen, auch ihre roten Jacken trugen dazu bei.

Auch in den französischen Skischulen macht man sich diesen Wärmeeffekt zunutze. Skilehrer frieren weniger, weil ihre qualitativ hochwertige Kleidung zusätzlich noch rot ist und ihnen so ein Gefühl von Wärme vermittelt. Man kann also mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Bergbekleidung auch in hundert Jahren noch rot sein wird.

In unseren Wohnungen stellen wir automatisch das Thermostat niedriger, wenn wir uns in einem überwiegend roten Zimmer befinden, und höher, wenn der Raum blau ist.37 Zweifelsohne beeinflusst dieses Verhalten unsere Energiekosten.

Doch Farben können nicht nur unsere Wahrnehmung der realen Welt verändern, sie beeinflussen auch unser Verhalten.

Farben der Gefahr und der physischen Dominanz


Am Anfang des ersten Kapitels war von Intelligenztests die Rede, bei denen sich die Farbe Rot negativ auf die Ergebnisse auswirkte.38 Ein kurzer Blick auf diese Farbe verändert menschliche Fähigkeiten und menschliches Verhalten, weil Rot unser Stammhirn weckt. Und wenn unser Stammhirn Überhand gewinnt, sind wir nicht mehr intelligente Lebewesen, sondern werden auf den Überlebensreflex reduziert. Rot begünstigt die Kodierung und das Kurzzeitgedächtnis:39 Somit verfügt man über die größtmögliche Aufmerksamkeit, um auf Gefahren zu reagieren.

In der Studie mit dem Intelligenztest wurden den Studenten verschiedenfarbige Ordner gegeben, aus denen sie eine Schwierigkeitsstufe für den IQ-Test auswählen sollten. Die Studierenden, die einen roten Ordner erhalten hatten, entschieden sich häufig für die einfachsten Tests: Die Farbe Rot macht Angst.

Und was noch viel mehr überrascht: Wenn man nur einige Sekunden lang auf etwas Rotes schaut, kann einen das einschüchtern. Man sagte denselben Studierenden, dass sie entweder einen Vokabeltest oder einen Analogietest ablegen würden, und wies sie an, den Ordner aufzuklappen und zu schauen, welchen Test sie vor sich hatten.

Die Versuchspersonen entdeckten in dem Ordner die Wörter »Analogie« oder »Vokabeln« vor entweder rotem oder grünem Hintergrund. Dann schickte man die Studierenden nach nebenan in ein Labor, um den Test zu holen. An der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift »Bitte anklopfen«. Die Studierenden, die zuvor auf die Schrift vor einen roten Hintergrund geblickt hatten, klopften signifikant weniger und verhaltener als diejenigen, welche die Informationen vor einem grünen Hintergrund abgelesen hatten.

Eine weitere Studie bestätigte dieses Ergebnis: Freiwillige wurden mit Bewegungssensoren ausgestattet und vor einen Computerbildschirm gesetzt. Danach teilte man ihnen mit, dass sie einen Logiktest absolvieren würden. Wenn der Bildschirm rot war – und nicht grau oder grün –, machten die Versuchskaninchen eine Rückwärtsbewegung. »Diese Ergebnisse zeigen, dass unser Körper auf einer sehr elementaren Ebene darauf gepolt ist, sich von etwas Rotem zu entfernen«, schlussfolgerten die Autoren.40

Nach diesen Ergebnissen wollte man mithilfe eines Elektroenzephalogramms schauen, was sich in den Gehirnen unserer freiwilligen Versuchspersonen abspielte. Ein roter Bildschirm führte zu erhöhter Aktivität in der rechten vorderen Hirnrinde, einem Hirnbereich, der mit emotionaler Aktivität verknüpft ist, genauer gesagt mit Emotionen, die mit Fluchtverhalten in Verbindung gebracht werden.

Untersuchungen an chinesischen Universitäten bestätigen die Angst vor dem Rot: Wissenschaftler führten an Studierenden, die sich freiwillig zur Verfügung stellten, eine Reihe von Intelligenztests durch. Vor jeder Fragesequenz erschienen die Anweisungen für die Hälfte der Teilnehmer vor einem roten und für die andere Hälfte vor einem grünen Hintergrund. Studenten, die Anweisungen von einem grünen Bildschirm ablasen, erzielten bessere Resultate als die Testpersonen mit dem roten Bildschirm.41

Schlussfolgerung: Wenn Sie geistig leistungsfähig sein müssen, hüten Sie sich vor der Farbe Rot! Wenn Sie sich hingegen als natürlicher Anführer präsentieren wollen, könnte Ihnen eine rote Krawatte helfen.42

Unter den Dilettanten mit roten Krawatten befinden sich ganz sicher auch einige Politiker. Eine rote Krawatte kann zwar andere Menschen beeindrucken, allerdings beeinflusst die Farbe auch den Träger selbst. Viele Männer...

 

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