Revolution oder Evolution - Das Ende des Kapitalismus?

Tomas Sedlacek, David Graeber, Roman Chlupatý

Revolution oder Evolution

Das Ende des Kapitalismus?

2015

144 Seiten

Format: ePUB

E-Book: €  8,99

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ISBN: 9783446443204

 

Roman Chlupatý (RC) In der gegenwärtigen Krise sehen wir in vielen Ländern unzufriedene Angehörige der Mittelschicht auf den Straßen; das ist eine soziale Schicht, die sich gewöhnlich sehr ruhig, wenn nicht sogar unterwürfig verhält und die nur selten rebelliert. Ist das ein Zeichen, dass die Situation ernst ist? Dass ein größerer Aufruhr bevorsteht?

David Graeber (DG) Nun, die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß. Ich glaube, was wir in der jüngsten Zeit mit der Occupy-Bewegung gesehen haben, vor allem in ihren Anfängen, ist eine Art Wendepunkt in der US-amerikanischen Geschichte. Die US-Regierungen haben in der Vergangenheit soziale Bewegungen immer wieder militärisch unterdrückt, allerdings weniger jene Bewegungen, an denen weiße Angehörige der Mittelschicht beteiligt waren. Und die Vorstellung, dass die Regierung Sicherheitskräfte, die in der Terrorbekämpfung ausgebildet sind, einsetzen könnte, um gegen ganz normale weiße Mittelschichtangehörige vorzugehen, die sich auf friedliche, gewaltfreie Weise versammeln und damit ein verfassungsmäßig garantiertes Recht in Anspruch nehmen, ist wirklich bestürzend. Ich denke, das ist eine bemerkenswerte Wendung in der amerikanischen Geschichte und wird von künftigen Historikern auch so bewertet werden. Was dies im Hinblick auf die langfristige Funktionsfähigkeit bestehender Vereinbarungen und Abläufe bedeutet, bleibt abzuwarten, doch die wenigen Leute, mit denen ich gesprochen habe und deren Geschäft darin besteht, sich um die langfristige Funktionsfähigkeit des Systems zu kümmern, sind sehr besorgt.

Tomáš Sedláček (TS) Ich glaube, dass man die Dinge in Bewegung setzen muss. Und sie werden ja auch in Bewegung gesetzt – durch Occupy, durch die grüne Bewegung und durch die Bewegung für fairen Handel. Es ist allerdings fraglich, ob das genügt. Das Problem des demokratischen Kapitalismus besteht darin, dass er Kritik braucht, dass er von ihr lebt. Wenn er nicht der Kritik ausgesetzt ist, zerfällt er. Und daher lautet die Frage, die sich jede soziale oder auf das System bezogene Kritik stellen muss: »Zerstöre ich das System? Oder stütze ich es?«

RC Sie betrachten beide die gegenwärtigen Zustände als unhaltbar. Sie vertreten die Ansicht, dass sich das System in seiner gegenwärtigen Form überlebt hat, Sie vergleichen es mit einem Zombie. Ist es möglich, das Schlechte das Zombiehafte aus dem System zu entfernen und das System als ganzes zu erhalten oder müssen wir es zerstören und etwas Neues aufbauen?

TS Sie fragen mit anderen Worten, ob wir dem Zombie wieder eine Seele einhauchen können, was meine Position wäre, während Sie, David – aber ich möchte Ihnen nichts in den Mund legen – den Zombie töten wollen.

DG Ja, in aller Kürze, unser Ziel besteht darin, eine Alternative zu schaffen, die aufzeigt, wie man die Dinge organisieren kann. Das wird unserer Meinung nach zum Zusammenbruch des gegenwärtigen Regimes beitragen.

TS Ich denke in diesem Zusammenhang an Thomas von Aquin, der sagte, um gut zu sein, muss man das Wollen und das Wissen haben, Gutes zu tun. Wenn ich also Gutes herbeiführen will, muss ich sozusagen wissen, was gut ist und wie ich es hervorbringen kann. Das ist keine einfache Sache. Auch Paulus spricht darüber: »Denn ich tue nicht, was ich will, Gutes, sondern was ich nicht will, Böses, das führe ich aus.« Das Bestreben ist richtig, aber die technische Umsetzung, die rationale Struktur gewissermaßen, ist schlecht. Auch in den Sozialenzykliken wird über sündhafte Strukturen gesprochen. Alle wollen »besonders nett zueinander sein«, aber am Ende sorgen die Strukturen dafür, dass sich dieses Ziel ins Gegenteil verkehrt, in eine kollektive Sünde.

DG Das ist interessant, denn unserer Bewegung für globale Gerechtigkeit wirft man häufig vor, dass wir eine Rhetorik des Schlechten verwenden, dass wir die Dinge einfach nur schlecht nennen. Aber wir sprechen nie davon, dass Menschen schlecht seien, wir sprechen davon, dass Institutionen schlecht sind. Denn wir glauben, dass man in einer freien Vereinigung allen das Recht zugestehen muss, an ihren Absichten zu zweifeln, sonst würde man dem grundlegenden anarchistischen Prinzip entsprechen, nämlich, dass die beste Möglichkeit, Menschen dazu zu bringen, sich wie Kinder zu verhalten, darin besteht, sie auch wie Kinder zu behandeln. Wenn man sie dagegen als wohlmeinende Erwachsene behandelt, ist die Chance am größten, dass sie sich auch so verhalten. Doch es gibt eine Grenze, die man nicht überschreiten kann. Wenn also gesagt wird, dass eine Institution wie die Welthandelsorganisation (WTO) schlecht ist, heißt das, dass es keine Rolle spielt, ob in dieser Einrichtung auch wohlmeinende Menschen tätig sind, sie kann strukturell keine positive Wirkung entfalten.

TS Mir gefällt Ihr Bild von der unschuldigen Dame, die für den IWF arbeitet und viel Geld für Wohltätigkeitsorganisationen spendet und die gleichzeitig – unbewusst – dazu beiträgt, dass die Zinsen erhöht werden, was die Existenz Hunderttausender Familien vernichtet. Das ist eine schöne Illustration eines Paradoxons, das der österreichisch-amerikanische Anthropologe Ivan Illich untersucht hat. Er erläutert ausführlich, wie wir unsere Moral in Institutionen veräußerlicht haben. Wir müssen uns nicht mehr um die Armen kümmern, wir haben ja ein Sozialsystem. Wir müssen nicht mehr für die Alten sorgen, wir haben ja eine Rentenversicherung. Wir brauchen uns nicht mehr um die Kranken zu kümmern, wir haben ja Krankenkassen, zumindest hier in Europa.

DG Genau. Meine Lebensgefährtin kommt aus Kanada, wir reisen zwischen Texas und Kanada hin und her und diskutieren viel über die Ähnlichkeiten und die Unterschiede der beiden Länder. Die sozialen Sicherungssysteme in Kanada sind stark ausgebaut und ungeheuer effektiv. Sie sagt, dass diese Systeme es den Menschen erlauben, nicht viel an andere denken zu müssen. In Texas dagegen sind die Leute viel freundlicher zu den Mitmenschen, weil sie es sein müssen, denn wenn man nicht nett zu den anderen ist, hat man keine Freunde. Und ohne Freunde hat man es schwer – oder man könnte in Schwierigkeiten kommen.

TS Man kann nicht einzelne Personen verantwortlich machen, und ich glaube, das tut auch kaum jemand. Die Schuld, das Unmoralische liegt bei den Institutionen. Wir haben keine moralischen Maßstäbe für Institutionen. Die Frage lautet: »Können Institutionen eine Moral haben?« Es muss nicht unbedingt eine physische Person dahinterstehen. Ein Problem ist auch die Arbeitsteilung in einer Volkswirtschaft. Innerhalb von Institutionen funktioniert das sehr gut. Deshalb richten wir die Steuern an der Wertschöpfung aus, weil wir diese bis auf den letzten Cent ermitteln können oder dies zumindest glauben. Aber wie ist es mit der Teilung von Schuld? Wenn ich jemanden ermorde, bin ich schuldig und werde zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Wenn wir es gemeinsam tun, wird die Schuld nicht etwa geteilt, sie multipliziert sich vielmehr – wir kriegen beide 30 Jahre. Wenn wir es zu viert machen, wenn wir uns verabreden, jemanden umzubringen, dann vervielfacht sich die Schuld. Das Beunruhigende hierbei ist, dass sich die Schuld nicht aufteilt, wie wir häufig annehmen. Das war früher der Fall bei der Steinigung – niemand wird verantwortlich gemacht, wir verkleinern die Schuld gewissermaßen in der Menge. In Wirklichkeit aber vervielfacht sich die Schuld, wie das alte römische Rechtssystem gezeigt hat.

RC Ist es dann möglich, das System zu verändern? Einerseits behaupten Sie, dass das möglich ist, Tomáš. Andererseits sagen Sie, dass wir Institutionen, die wie Nervenzentren funktionieren, nicht in einen ethischen Rahmen pressen können.

TS Das ist der Preis der Spezialisierung. Man benötigt sehr gut entwickelte Institutionen, um zusammenarbeiten zu können. Wenn man eine spezialisierte Gesellschaft möchte, braucht man logischerweise Institutionen. Und diese sind – man kann darüber diskutieren, in welchem Ausmaß sie spontan sind, in hohem Maße sind sie es – von Menschen gemacht. Und wir sind verantwortlich für die Institutionen, die wir hervorgebracht haben. Hier muss man Marx zustimmen, auf diesem Gebiet hatte er Recht, glaube ich. Wenn Institutionen menschengemacht sind, dann sind die Menschen auch für sie verantwortlich. Sie sind verantwortlich für das Auto, das Sie fahren. Sie können den Zusammenstoß nicht dem Auto in die Schuhe schieben, wenngleich es, technisch gesehen, das Auto war, das Sie umgebracht hat.

RC Wie können wir dann Institutionen verändern? Wie können wir diese unwirklichen Zombies in etwas umwandeln, das keine Ängste auslöst?

TS Indem wir ihnen einen Seele geben. Indem wir zum Beispiel die Tatsache anerkennen oder uns mit ihr arrangieren, dass die Wirtschaft keine wertneutrale Naturwissenschaft ist, die keinerlei Seele besitzt. Das ist die eigentliche Schwierigkeit mit der unsichtbaren Hand des Marktes. Er ist ein unorchestrierter Orchestrator. Und die Regel des freien Marktes lautet: »Reguliere ihn nicht! Auf keinen Fall! Mische dich nicht ein! Er wird uns in die Zukunft führen. Wir brauchen nicht zu wissen, wie und wohin, wir müssen nur an diese institutionelle, halb-spontane, halb-künstliche Einrichtung glauben. Sie wird uns dorthin führen. Und wenn du dich einmischst, darfst du auf...

 

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