Lean Factory Design - Gestaltungsprinzipien für die perfekte Produktion und Logistik

Markus Schneider

Lean Factory Design

Gestaltungsprinzipien für die perfekte Produktion und Logistik

2016

306 Seiten

Format: PDF, ePUB, Online Lesen

E-Book: €  39,99

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ISBN: 9783446450066

 

1 Fallstudie: Massenproduktion vs. Prozessorientierung

Diese Fallstudie soll dazu dienen, einige Denkanstöße zu geben und auf die Ideen im Weiteren vorzubereiten. Es geht nicht darum, ein möglichst exaktes und vollständiges Abbild der Produktion o. Ä. zu zeigen. Auch sind manche Aussagen bewusst provokativ oder überspitzt, um auf bestimmte Probleme und Zielkonflikte hinzuweisen.

1.1 Fallstudie Teil 1

Quelle: Helfrich 2002, S. 179 ff.

Problem:

Die Designer-Leuchtenfirma mit 30 Mitarbeitern produziert ca. 5.000 Leuchten pro Jahr. Die Durchlaufzeit der Leuchten von der Bestellung bis zur Auslieferung beträgt ca. 8 Wochen, stark schwankend.

Die Termintreue ist sehr schlecht, mit der Folge einer hohen Unzufriedenheit der Kunden. Die Reklamationsquote steigt, auch wegen der niemals eingehaltenen Termine. Das macht sich insbesondere im Weihnachtsgeschäft bemerkbar und führt zu Mindererlösen sowie zu einer starken Ergebnisschmälerung.

Der Chef bestimmt alles: Die Reihenfolge der Aufträge, die Zukäufe, den Personaleinsatz, usw. ? jede einzelne Tätigkeit wird von ihm fallweise selbst ausgeübt und zwar immer besser als von jedem seiner Mitarbeiter. Der Führungsstil ist extrem patriarchalisch, das Mitdenken der Mannschaft ist nicht gefragt. Auch Organisation ist kein Thema: „Wenn alle nur ihre Arbeit richtigmachen würden, dann stünden wir viel besser da …“

Die Kalkulation (nur auszugsweise) zeigt die folgenden Schwerpunkte:

  • 40?% Materialkosten,

  • 12?% Lohnkosten.

Etwa 10?% der Kosten werden als Reklamationskosten zusätzlich zu den Kosten der Reklamationsbearbeitung ausgewiesen (durch zu späte oder unvollständige Lieferung, Beschädigung beim Transport, Qualitätsmängel …).

Der Anteil der Fremdvergaben ist hoch (Oberflächenbehandlung, Holzbearbeitung, Galvanik). Deswegen müssen die Firmen, die Fremdvergaben ausführen, oft angemahnt und angefahren werden. Ca. 10?% der Arbeitszeit ist eigentlich Fahrzeit.

Von einem Prozessmanagement kann eigentlich keine Rede sein. Im Gegenteil: Der Chef sitzt oft stundenlang an einer Maschine und optimiert (d.?h. maximiert) dort auch die jeweilige Losgröße, wenn er nicht gerade selbst zu den Unterlieferanten unterwegs ist.

Ziel:

  1. Die Firmenleitung ist gewarnt durch die stetig sinkenden Margen und beschließt eine Re-Organisation. Die Erträge sollen wieder steigen und zwar auf 20?% Gewinn auf den Umsatz. Ein Turn-Around wird eingeleitet.

  2. Charakteristika der Lösung:

  3. Zuerst werden die konventionellen Lösungen diskutiert: Senken der Löhne (üblicher Versuch und stete Klage, aber dennoch falsch und Ausdruck der Inkompetenz bei einem Anteil von nur 12?% der Gesamtkosten).

  4. Billiger Einkaufen: Das ist in der Tat ein noch nicht genutztes Potenzial. Günstige Einkaufsquellen gäbe es z.?B. in Italien. Wer jedoch kann italienisch? Wie terminsicher liefern die Italiener?

  5. EDV einführen: Zum Beispiel SAP als Maximallösung (dann kann mir als Geschäftsführer nichts passieren …). Das würde erst einmal Kosten für die Einführung verursachen. Die Rationalisierung ist ein Versprechen ohne Verbindlichkeit. Für die Systempflege fehlt die Kapazität und das Know-how.Erhöhen der Verkaufspreise. Das wird diskutiert, aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit aber verworfen.

  6. Anziehen der Zeitwirtschaft: Reduzieren der groben Zeitvorgaben.Ausbauen der „optimalen Losgrößen“. Dazu hätte man jedoch bis zu einem Jahresbedarf auf Lager legen müssen.

1.2 Analyse der Fallstudie

Beginnen wir unsere Analyse mit der Durchlaufzeit. Was ist wohl schlimmer? Die acht Wochen Durchlaufzeit oder die starken Schwankungen in der Durchlaufzeit?

Die starken Schwankungen sind das weitaus größere Problem. Die acht Wochen sind zwar sehr lange, aber man kann diese Zeit einplanen. Die Untersuchung der Durchlaufzeiten der einzelnen Produktionsaufträge bei einem realen Beratungsprojekt über einen Zeitraum von zwei Jahren hat ergeben, dass der schnellste Auftrag im Betrachtungszeitraum fünf Tage und der längste > 300 Tage benötigt hat. 80?% der Aufträge waren weniger als 37 Tage und 50?% der Aufträge weniger als 24 Tage im System. Angenommen, Sie sollen als Vertriebsmitarbeiter dem Kunden ein Lieferdatum nennen, welche Lieferzeit geben Sie mit dem beschriebenen Produktionssystem an?

Fünf Tage ist sehr mutig. Wenn Sie 24 Tage angeben, haben Sie eine Termintreue von 50?%. Sie könnten 37 Tage angeben. Dann wartet Ihr Kunde fast acht Wochen und Sie haben immer noch erst eine Termintreue von 80?%. Was wollen Sie für eine Lieferzeit nennen? 100 Tage vielleicht?

Sie sehen, dass die Schwankungen in der Durchlaufzeit, das größte Problem für die Stabilität in Unternehmen ist. Es macht Unternehmen unsteuerbar.

Wichtig ist weiterhin der Zusammenhang zwischen der Durchlaufzeit und der Termintreue. Sie können Termintreue mit dem Versuch, mit einem Stab (Durchlaufzeit) ein kleines Loch (schmales Terminfenster) zu treffen, vergleichen. Mit einem kurzen Stab (also einer kurzen Durchlaufzeit) ist das kein Problem. Aber wenn Sie diese Aufgabe mit einem 8?m langen, schwankenden Stab (acht Wochen Durchlaufzeit, stark schwankend) erfüllen sollen, wird dieses Unterfangen zunehmend schwierig.

Auch, dass der Chef alles selbst bestimmen will, stellt ein Problem dar. Zum einen ist es, selbst bei einer geringen Aufgaben- und Führungsspanne, schon nicht mehr möglich, selbst alles besser als die anderen zu können. Zum Zweiten hat dieses Verhalten verheerende Auswirkungen auf die Motivation der Mitarbeiter. Spätestens nach dem zweiten, nicht beachteten Vorschlag werden die Mitarbeiter „innerlich kündigen“.

Was halten Sie von den 40?% Materialkostenanteil? Ist das im bundesdeutschen Vergleich viel oder wenig? Die Erfahrung aus einer Umfrage und über hundert Schulungen zeigt, dass der Materialkostenanteil systematisch unterschätzt wird. Die Meisten schätzen 30 bis 40?% und den Lohnkostenanteil in etwa ebenso hoch. Interessanterweise liegt der Materialkostenanteil im Durchschnitt über alle Industrien aber tatsächlich bei knapp 60?%, der Lohnkostenanteil je nach Branche aber nur bei 12 bis 24?% [Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Dezember 2012, S. 48 f.]. Eine wichtige Ursache für diese Entwicklung ist das Thema Outsourcing und Konzentration auf die Kernkompetenzen. Seit Jahrzehnten steigt der Materialkostenanteil enorm. Allerdings handeln die meisten Manager so, als ob immer noch der Lohnkostenanteil der größte Kostenblock wäre. Schließlich wurden die meisten älteren Manager in hohen Führungspositionen ja auch in einer Zeit ausgebildet, als diese Annahme durchaus noch zutraf.

Auch die meisten ERP-Systeme optimieren die Auslastung des Personals und der Maschinen. Das Material wird häufig nicht einmal erfasst. Überspitzt formuliert: Wir lassen 60?% der Kosten warten, um 12 bis 24?% der Kosten voll auszulasten!

Unser Umfeld ändert sich kontinuierlich. Wir sollten uns die Frage stellen, ob wir eigentlich noch die richtigen Größen mit den richtigen Werkzeugen optimieren.

Sind aus Ihrer Sicht Fremdvergaben generell gut oder schlecht? Vermutlich kann man die Frage so nicht beantworten. Es gibt sicherlich viele Gründe für ein Outsourcing, z.?B. fehlende technische Kompetenz oder zu geringe Auslastung teurer Anlagen. Dennoch wird heutzutage viel zu häufig auf Basis einer zu einfachen Kostenbetrachtung outgesourct. Es werden lediglich direkt die Lohnkosten pro Teil verglichen. Besonders herausragend war in einem Beratungsprojekt ein Bauteil, das für 15?Sekunden Fertigungszeit nach Bulgarien gefahren wurde. Laut Controlling rechnete sich das. Allerdings erhöhten der Transport und der Durchlauf im Werk in Bulgarien die Durchlaufzeit um (sage und schreibe) neun Wochen. Was aber kosten nun neun Wochen Durchlaufzeit? Der Controller konnte das nicht in Euro fassen, damit war es nicht entscheidungsrelevant. Kann das richtig sein?

Fremdvergaben führen in den meisten Fällen durch die Transporte und die notwendigen zusätzlichen Schnittstellen zu längeren Durchlaufzeiten und machen den Prozess langsamer. Fragen Sie sich, ob Sie das bei Ihren Entscheidungen einbeziehen. Die Erfahrung aus vielen Beratungsprojekten zeigt, dass dieser Aspekt meist nicht berücksichtigt wird.

Ein weiteres Phänomen sind die Losgrößen. Der Chef in unserem Beispiel „optimiert“ in stundenlanger Arbeit die Losgrößen an einzelnen Maschinen. Machen wir folgendes Gedankenexperiment: Sie sind mit Ihrem Unternehmen hoffnungslos im Lieferrückstand. Die Telefone laufen heiß, weil sich alle Kunden beschweren. Welche Anweisung geben Sie dem Werker an der Maschine in dieser Situation bezüglich der Losgröße: Hoch oder runter setzen?

Hier zeigt die Erfahrung aus Hunderten...

 

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