Das trügerische Gedächtnis - Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht

Julia Shaw

Das trügerische Gedächtnis

Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht

2016

304 Seiten

Format: ePUB

E-Book: €  10,99

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ISBN: 9783446448926

 

EINLEITUNG


Wenn Nobelpreisträger ihre Auszeichnung erhalten, bekommen sie eine Kurznachricht ähnlich denen von Twitter mit einer Erklärung, wofür ihnen der Preis verliehen wird. Seit ich das weiß, habe ich mehr Zeit, als mir lieb ist, damit zugebracht, diese Begründungen zu studieren, mit denen die einzigartige Bedeutung der Preisträger für die Welt gewürdigt werden soll.

Einer meiner absoluten Lieblingstexte sucht die Arbeit von Seamus Heaney zusammenzufassen, der 1995 den Literaturnobelpreis bekam, weil er »Werke lyrischer Schönheit und ethischer Tiefgründigkeit schafft, die alltägliche Wunder und eine lebendige Vergangenheit preisen«. Was für eine unglaubliche Aussage! Schönheit, Ethik, Geschichte, alles durchtränkt vom Gefühl des Wunderbaren und in so wenigen Worten eingefangen. Jedes Mal, wenn ich diese Erklärung lese, lächle ich.

Ich notiere mir diese knappen Begründungen für die Nobelpreisverleihung auf dem kleinen Whiteboard, das ich als Inspirationsquelle auf dem Schreibtisch habe, nutze sie in meinen Vorlesungen und versuche sie beim Schreiben in meine Texte einzuflechten. Sie zeigen mir stellvertretend, dass man selbst über die größten Errungenschaften der Menschheit in verständlicher Sprache berichten kann. Ein Echo dieser Idee findet sich bei zahlreichen großen Persönlichkeiten der Geschichte: Soll unsere Arbeit Bedeutung haben, müssen wir sie einfach erklären können. Ich lebe auch selbst mit dieser Philosophie möglichst sparsamer Erklärungen. Allerdings riskiere ich dann, wenn ich Konzepte mithilfe von Analogien, Geschichten oder Vereinfachungen zu erklären versuche, dass einige Nuancen der von Haus aus komplexen Sachverhalte, um die es geht, auf der Strecke bleiben. Die hier verhandelten Themen Gedächtnis und Identität sind beide unglaublich komplex, und in einem einzigen Buch kann ich bestenfalls hoffen, die Oberfläche der enorm umfangreichen Forschung an den Schnittpunkten dieser Gebiete zu streifen. Folglich kann ich zwar nicht versprechen, das wissenschaftliche Gesamtbild einzufangen, aber ich hoffe, einen Frageprozess einzuleiten. Einen Prozess, der sich mit fundamentalen Fragen befasst, die wahrscheinlich an den meisten von uns genagt haben, seit wir begonnen haben, die Gabe der Introspektion zu nutzen.

Wie viele andere auch entdeckte ich meine Fähigkeit zur Introspektion erstmals als Kind. Ich erinnere mich, dass ich als kleines Mädchen stundenlang wach lag und nicht einschlafen konnte, weil ich so tief in Gedanken versunken war. Ich lag dann in der oberen Etage meines Stockbetts, drückte die Fußsohlen an die weiße Decke des Zimmers und dachte über den Sinn des Lebens nach. Wer bin ich? Was bin ich? Was ist wirklich? Obwohl ich es damals nicht wusste, waren das meine Anfänge als Psychologin. Die Fragen, die ich mir stellte, betrafen Kernaspekte des Menschseins, und als kleines Mädchen hatte ich keine Ahnung, dass ich in so guter Gesellschaft war, als ich nicht auf die Antworten kam.

Das Stockbett habe ich inzwischen nicht mehr, aber die Fragen schon. Statt philosophische Zwiesprache mit der Zimmerdecke zu halten, betreibe ich heute Forschung. Statt mit meinem Musikteddy zu diskutieren, wer ich bin, diskutiere ich es heute mit Fachkollegen und sonstigen Wissenschaftlern, mit Studierenden und anderen, die ebenso neugierig sind wie ich. Beginnen wir also unsere abenteuerliche Reise durch die Welt des Gedächtnisses ganz vorne, wo Forschung die Suche nach sich selbst ist, und fragen: Was macht Sie zu dem, der Sie sind?

WER BIN ICH?


Wenn wir uns definieren, denken wir vielleicht an unser Geschlecht, unsere ethnische Zugehörigkeit, das Alter, den Beruf und die Kennzeichen des Erwachsenseins, die wir schon erreicht haben, wie den Abschluss unserer Ausbildung, den Kauf eines Hauses, Heirat, eigene Kinder oder das Erreichen des Rentenalters. Vielleicht denken wir auch an Persönlichkeitsmerkmale – ob wir eher optimistisch oder pessimistisch, lustig oder ernst, selbstsüchtig oder selbstlos sind. Außerdem denken wir wahrscheinlich darüber nach, wie wir im Vergleich zu anderen abschneiden, und schauen dann oft gleich, wie es um unsere Freunde auf Facebook und LinkedIn steht, um zu sehen, ob wir Schritt halten. Doch obwohl alle diese Stichworte mehr oder weniger angemessen definieren mögen, wer wir sind, liegt die wahre Wurzel unserer Identität fast sicher in unseren persönlichen Erinnerungen.

Unsere persönlichen Erinnerungen helfen uns, unseren Lebensweg zu verstehen. Nur durch meine persönlichen Erinnerungen kann ich auf die Gespräche mit einem meiner anregendsten Professoren im Bachelor-Studium, Dr. Barry Beyerstein, zurückgreifen, der mir kritisches Denken beigebracht und viele Male Zitronen-Mohn-Kuchen mit mir gegessen hat. Oder auf die Gespräche mit Dr. Stephen Hart nach seinen Vorlesungen, der mich als erster Mensch in meinem Leben zu einem Graduierten-Studium ermutigt hat. Oder ich kann an den schweren Autounfall zurückdenken, den meine Mutter vor einigen Jahren hatte und der mich gelehrt hat, wie ungeheuer wichtig es ist, rechtzeitig seine Gefühle für die Menschen auszudrücken, die man liebt. Solche wegweisenden Begegnungen und Ereignisse haben eine ungeheure Bedeutung für uns und helfen uns, unser persönliches Narrativ zu organisieren.

Allgemeiner gesagt bilden die Erinnerungen die Grundlage unseres Lebens und unserer Identität. Sie formen das, was wir erlebt zu haben und wozu wir uns daher auch in Zukunft befähigt glauben. Aus all diesen Gründen können wir unser Gedächtnis nicht infrage stellen, ohne zugleich zwangsläufig die Fundamente unserer Identität infrage zu stellen.

Machen Sie zum Beispiel einmal folgendes Gedankenexperiment: Wie wäre es, wenn Sie eines Morgens aufwachen würden und sich an nichts mehr erinnern könnten, was Sie je getan oder gedacht oder gelernt haben. Wären das dann noch Sie?

Wenn wir über dieses Szenario nachdenken, reagieren wir vielleicht instinktiv mit Angst. Wir bekommen sofort das Gefühl, dass man uns alles, was wir sind, nehmen könnte, indem man einfach unsere Erinnerung auslöscht, sodass nur die Hülle unseres früheren Selbst zurückbleibt. Wenn unser Gedächtnis weg ist, was bleibt uns dann? Es klingt wie die Prämisse eines Science-Fiction-Films: »Und dann erwachten sie, und keiner von ihnen wusste mehr, wer er war.« Andererseits könnten wir bei dieser Aussicht auch erleichtert sein, dass wir nicht mehr von unserer Vergangenheit eingeschränkt würden und ein neues Leben beginnen könnten, da ja unsere grundlegenden geistigen Fähigkeiten und unsere Persönlichkeit noch intakt wären. Vielleicht stellen wir auch fest, dass wir zwischen Angst und Faszination hin und her schwanken.

Zum Glück ist ein derart dramatischer Gedächtnisverlust im wirklichen Leben selten, doch gleichzeitig ist unser Gedächtnis anfällig für ein breites Spektrum von Fehlern, Verzerrungen und Veränderungen. Einige davon hoffe ich in diesem Buch erhellen zu können. Ausgestattet mit wissenschaftlichem Rüstzeug und ehrlicher Neugier möchte ich wiederholt zu der Überlegung herausfordern, welche Folgen die vielen möglichen Irrwege unseres Gedächtnisses für unsere persönliche Identität haben können. Dabei werde ich kleine Kostproben meiner eigenen Abenteuer einstreuen. Aber wie finden wir überhaupt einen Anfang für das Gespräch über das komplexe Phänomen des Gedächtnisses? Beginnen wir mit einem Blick auf zwei Schlüsselbegriffe der Gedächtnisforschung.

Das semantische Gedächtnis, auch generisches Gedächtnis genannt, umfasst die Erinnerung an Bedeutungen, Begriffe und Fakten. Dabei können Menschen oft bestimmte Arten von semantischen Erinnerungen besser abrufen als andere. So kann es etwa sein, dass jemand sich ausgezeichnet die Daten historischer Ereignisse merken kann, aber größte Mühe hat, sich an die Namen von Personen zu erinnern. Obwohl beides unter das semantische Gedächtnis fällt, kann bei ein und demselben Menschen die Leistung bei diesen Aufgaben ganz unterschiedlich ausfallen. Ein anderer erlebt vielleicht das Gegenteil – er kann sich hervorragend Namen und Gesichter merken, aber nur ganz schlecht an wichtige Daten erinnern.

Neben dem semantischen Gedächtnis gibt es das episodische oder autobiografische Gedächtnis. Wenn Sie sich an Ihren ersten Tag an der Universität, Ihren ersten Kuss oder Ihren Urlaub in Cancún im Jahr 2013 erinnern, greifen Sie dafür auf Ihr episodisches Gedächtnis zurück. Damit bezeichnet man die Sammlung unserer vergangenen Erlebnisse. Es ist unser persönliches Erinnerungsalbum, das Tagebuch unseres Geistes, unsere innere Facebook-Chronik. Das episodische Gedächtnis behält die Übersicht über Erinnerungen an Ereignisse, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort stattfanden. Der Zugriff auf diese Art von Erinnerungen kann sich anfühlen, als würden wir multisensorische Erfahrungen wieder erleben. Wir können den Sand unter unseren Zehen spüren, die Sonne auf der Haut, den Wind in den Haaren. Wir haben den Schauplatz vor Augen, hören die Musik, können uns die Menschen vorstellen. Das sind Erinnerungen, die uns kostbar sind. Diese spezielle Erinnerungsbank definiert, wer wir sind, und nicht einfach unser Faktenwissen über die Welt.

Dennoch ist dieses episodische Gedächtnis, auf das wir alle uns so sehr stützen, etwas, das viele von uns beklagenswert missverstehen. Wenn wir uns ein besseres Bild davon machen können, wie das episodische Gedächtnis tatsächlich arbeitet, gewinnen wir auch ein besseres Verständnis des Zirkus, um den es sich bei unserer erlebten Wirklichkeit handelt.

ERINNERUNG IST...


 

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