Die Supernasen - Wie Artenschützer Ameisenbär & Co. vor dem Aussterben bewahren

Lydia Möcklinghoff

Die Supernasen

Wie Artenschützer Ameisenbär & Co. vor dem Aussterben bewahren

2016

208 Seiten

Format: ePUB

E-Book: €  6,99

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ISBN: 9783446448889

 

AMEISENBÄRENFORSCHUNG!


Mensch, das ist aber ein nettes Hobby!


 

Prolog im Pantanal in Brasilien

 

 

 

Langsam wird’s eng. Direkt vor mir gräbt sich der Große Ameisenbär schnaufend durch den Sand. Wenn er noch näher kommt, steht er mir auf den Füßen. Gesehen, gehört oder gerochen hat er mich offensichtlich noch nicht, so vollkommen gelöst in seiner Existenz, wie es nur ein Ameisenbär sein kann. Abgesehen von einem großen »Ameisen« passt gerade nichts in sein kleines Hirn (das ist nur so groß wie eine Walnuss).1 Die lange, bananenförmige Schnauze stöbert im Gras, während der Wind in der Savanne den buschigen, dunkelbraunen Schwanz zerzaust. Ich hocke in ziemlich verrenkter Haltung im kurzen Gras. Über 40 Grad in der brasilianischen Savanne. Puh … Das Tier ist mittlerweile so nah, dass ich nicht wage, mich zu bewegen. Na ja, nicht, dass ich mich aktuell bewegen könnte – meine Beine sind schon lange eingeschlafen. Expertentipp direkt zu Beginn dieses Buches: Wenn man Position an einer Stelle bezieht, an der mit großer Wahrscheinlichkeit demnächst ein Wildtier vorbeikommt, sollte man auf eine bequeme Körperhaltung achten. Ist es nämlich erstmal da, müssen ruckartige Bewegungen vermieden werden, um es nicht aufzuscheuchen, und so leidet man dann leise mit schmerzendem Rücken und tauben Extremitäten vor sich hin. Vielleicht auch eine Altersfrage? War das anders, als ich vor zehn Jahren anfing, Brasiliens eigenartige Tierwelt zu erforschen?

 

 

 

Es gibt vier Arten von Ameisenbären, die kleinsten sehen ein bisschen aus wie Eichhörnchen, die größten, die ich erforsche, sind bis zu zwei Meter lang. Sie sind so hoch wie ein Schäferhund, bestehen aber zu großen Teilen aus Schwanz und Schnauze. Der offizielle Artname dieser großen Ameisenbären ist auf Deutsch »Großer Ameisenbär«. Da hat sich jemand bei der Namensgebung kreativ ausgetobt. Der lateinische Name ist ein bisschen fetziger und verrät auch mehr über das Tier an sich: Myrmecophaga tridactyla, also der dreifingrige Ameisenfresser. Tatsächlich haben Große Ameisenbären drei lange Krallen. Mit denen kämmen sie beim Baden gewissenhaft ihren Schwanz oder graben im Boden nach Ameisen und Termiten. Die fressen sie nämlich ausschließlich. Darum auch die auffällige Rübenschnauze, die kann man prima in das gegrabene Loch stecken, um dann die bis zu 60 Zentimeter lange Zunge abzuseilen, an der die Beute wie am Klebeband pappen bleibt.2 30.000 Ameisen und Termiten frisst ein Großer Ameisenbär auf diese Weise pro Tag.3 Das hört sich spektakulär an, sind aber nur 180 Gramm Nahrung für das große Tier. Der Ameisenbär ist daher permanent mangelernährt und deshalb nicht von der schnellsten Sorte. Im Zuge meiner Forschung konnte ich zeigen, dass er sich (auch wenn er zumindest auf kurze Distanz recht schnell galoppeln kann) mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 200 Metern in der Stunde vorwärtsbewegt. Eins möchte ich Ihnen sagen: Tierforschung kann sehr spannend sein. Aber, wie im Falle dieser Datenerhebung, manchmal auch sehr zäh. Faultierforscher haben’s da vermutlich nicht besser. Übrigens sind Faultiere mit Ameisenbären verwandt. Genau wie Gürteltiere. Alles typische Tiere für die Natur Süd- und Mittelamerikas.4 Sie gehören zur Ordnung der Nebengelenktiere und werden so genannt, weil sie ein extra Gelenk in der Wirbelsäule haben. Darum kann sich ein Kugelgürteltier bei Gefahr zusammenklappen wie ein Schweizer Taschenmesser, und ein Faultier kann sich rücklings vom Baum baumeln lassen. Ameisenbären können sich durch das Gelenk komfortabel auf die Hinterbeine stellen, um die Krallen zur Verteidigung oder zum Befummeln von Bäumen und Termitenhügeln frei zu haben.

Weil so ein Großer Ameisenbär doch recht auffällig durch die Savanne streift, ist es ziemlich überraschend, dass es kaum Forschung zur Ökologie dieser Tierart gibt. Die Ökologie untersucht die Wechselbeziehung eines Lebewesens zu seiner Umwelt. Also wie ein Ameisenbär zum Beispiel auf das Wetter reagiert, oder in welchen Lebensräumen er sich am liebsten aufhält. Auch über das Verhalten der Tiere weiß man nur wenig. Die meisten Studien sind mehr als 30 Jahre alt.

Ganz schön alt. So alt wird ein Ameisenbär maximal im Zoo, und alt fühle ich mich auch gerade, wie ich da so verrenkt im Sand sitze. Kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit, dass ich auf einen Aushang an der Uni für ein Praktikumsangebot in Brasilien reagierte und kurz drauf in der nordbrasilianischen Savanne vor meinem allerersten Großen Ameisenbären stand. Ausgerechnet eine Mutter mit einem kleinen, flaschenkürbisförmigen Baby, das sie nach Ameisenbärentradition auf dem Rücken mit sich herumtrug. Bis zu neun Monaten reitet ein kleiner Ameisenbär bei Mama mit, dann muss er sehen, wo er bleibt, denn die Tiere sind Einzelgänger. Und einfach wahnsinnig faszinierend.

 

 

Luxusprobleme


 

Wie die Ameise an seiner Zunge blieb ich forschungstechnisch am Ameisenbären kleben. Erst setzte ich während meines Tropenökologiestudiums in Würzburg meine Forschung in Nordbrasilien fort. Dort sind Ameisenbären in Akazienplantagen extrem häufig. Nicht, weil die Plantagen eine Wohltat für die Savanne dort sind. Im Gegenteil: Sie verändern die Natur möglicherweise unwiederbringlich, denn die Wurzeln von Acacia mangium, der Baumart, die dort angebaut wird, können in der Erde Stickstoff akkumulieren. Bodenbewohnende Ameisen und Termiten finden die Nährstoffe im Boden prima. Es gibt sie dadurch viel häufiger als in der Savanne und somit auch mehr Ameisenbären. Viel mehr! In der Pflanzung stehen bis zu zehn Ameisenbären pro Quadratkilometer herum. Ansonsten sieht man eigentlich gar keine Wildtiere. Pampashirsche und Wasserschweine kommen mit dem künstlichen Wald, der sich dort breitmacht, wo eigentlich gelbes, wogendes Gras wachsen und Palmenhaine kleine Bäche umstehen sollten, überhaupt nicht zurecht.

Die Ameisenbären haben derweil fast so etwas wie Luxusprobleme: Sie sind in den Plantagen so häufig, dass sie in sozialen Stress geraten. Das Einzelgängertum ist schwer umzusetzen, wenn überall Artgenossen herumstehen. Vermutlich ist es in einem überfüllten Hörsaal im Grundstudium Physik ganz ähnlich. Die auffälligen Kratzspuren, die Ameisenbären hier an den Bäumen der Pflanzung hinterlassen, könnten ihre Antwort auf den ganzen Stress mit den Artgenossen sein. Eine Kratzspur möchte demnach sagen: »Also, ich hab hier gerade gekratzt, geh bitte woanders lang, sonst hau ich dir auf die Schnauze.« So ein System kennt man zum Beispiel von Hauskatzen, bei denen funktionieren Markierungen wie Ampeln: Frisch – »Hier bitte nicht langgehen, hier bin ich schon.« Mittel – »Okay, geh ruhig weiter, aber halt die Augen offen, ich bin hier vielleicht auch unterwegs.« Alt – »Ewig her, dass ich hier war. Du hast freie Fahrt.« Gut denkbar, dass der Ameisenbär es ähnlich hält. Solche Unterhaltungen mithilfe von Kratzbäumen wären ein völlig neuer Aspekt im Ameisenbärenverhaltenskatalog. Bisher wusste man gar nicht, dass die Tiere überhaupt miteinander kommunizieren, und ging davon aus, dass jeder unorganisiert in seinem Privatuniversum herumtapert. Vielleicht sind die Kratzbäume aber auch lediglich ein Stressventil – kratzen anstelle nervöser Zuckungen?

Um das herauszufinden und um mal zu sehen, wie sich ein ungestresster Ameisenbär in seinem natürlichen Lebensraum verhält, landete ich einige Jahre später im Westen Brasiliens, nahe der Grenze zu Paraguay und Bolivien. Und blieb. Wenn ich nicht in Bonn am Zoologischen Forschungsmuseum Koenig arbeite, schlage ich mich seit fast sieben Jahren durch das Dornengestrüpp des brasilianischen »Pantanals«, eines der größten Binnenfeuchtgebiete und Naturparadiese der Erde. Dort werde ich von Wasserbüffeln attackiert – und vom Forschungsobjekt ignoriert. Jaguare und Riesenotter leben an den Flüssen, Pumas und Tapire durchstreifen die Wälder. Es gibt knapp 700 Vogelarten – in ganz Deutschland sind es um die 500. Die Natur ist fernab der Stadt noch unberührt und wunderwunderschön. Ich arbeite auf einer Rinderfarm am Rio Negro. Vier Stunden Schlammpiste liegen zwischen mir und der nächsten Siedlung, nur passierbar zur Trockenzeit, in der Regenzeit muss man ein- und ausgeflogen werden. Hier wechseln sich Galleriewälder mit Salz- und Süßwasserseen ab. Gelb blühende Cambará-Bäume wachsen entlang des Flussufers. Große, weite Ebenen mit Carandá-Palmen werden durch regelmäßige Überschwemmungen auf natürliche Weise frei gehalten. Einmal jährlich zur Regenzeit steht das vielfältige Mosaik aus Wäldern, Savannen, Flüssen und Seen nämlich großflächig unter Wasser. Dann kann man (oder besser ich) prima Geländewagen im Matsch festfahren.

Momentan ist aber Trockenzeit, so gerade noch, die macht es möglich, am Ufer eines ausgetrockneten Salzsees vor diesem gut gelaunten Ameisenbären zu hocken. Ganz ohne Eile tapst er noch etwas näher auf mich zu, schnuppert versunken im Sand an einem Grasbüschel herum und fängt dann entschlossen an, mit den Krallen ein Loch auszuheben. Ich bin derweil damit beschäftigt, meinen eingeschlafenen rechten Fuß möglichst geräuschlos unter meinem linken Bein hervorzuarbeiten. Der Ameisenbär presst seine lange Schnauze ruckartig nach vorne in die Kuhle. Offenbar hat er ein Ameisennest unter der Erde erschnüffelt. Großen Ameisenbären wird ja ein sehr feiner Geruchssinn nachgesagt. Supernasen!...

 

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