Die Mathematik des Daseins - Eine kurze Geschichte der Spieltheorie

Rudolf Taschner

Die Mathematik des Daseins

Eine kurze Geschichte der Spieltheorie

2015

250 Seiten

Format: ePUB

E-Book: €  6,99

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ISBN: 9783446444805

 

I Spielen mit Wasser und Diamanten

Wien, zwischen 1870 und 1928

„Dieses Buch ist ein Meisterwerk.“

Karl Menger strahlt vor Freude. Er hat sich Lob erwartet, aber dass es von seinem Lehrer Hans Hahn so deutlich ausfällt, überrascht ihn doch.

Keinen seiner Schüler, mit Ausnahme des eigenartigen Kurt Gödel, eines Eigenbrötlers am Institut, schätzte Hahn so sehr wie den jungen Menger. Man musste immer „der junge Menger“ sagen, wenn man ihn meinte. Denn sein Vater, „der alte Menger“, war vor Jahren ebenfalls Professor an der Universität Wien gewesen. Eine Berühmtheit: der Schöpfer der österreichischen Schule der Nationalökonomie. Zu allem Überdruss trugen Sohn und Vater klanglich den gleichen Vornamen: Nur im Anfangsbuchstaben, dem altertümlichen C beim Vater und dem modernen K beim Sohn, unterschieden sie sich.

Eigentlich hatte der alte Menger gehofft, der Sohn würde in seine Fußstapfen treten. Er selbst stammte aus der tiefsten Provinz, aus Neu-Sandez in Galizien, einer Stadt, berühmt für ihre chassidische Gemeinde und den bis zu seinem Tode 1876 dort lehrenden Rabbiner Chaim Halberstam. Als Sohn einer wohlhabenden Beamtenfamilie, der Vater Anton war Rechtsgelehrter, die Mutter Caroline Tochter eines vermögenden böhmischen Kaufmanns, kam Carl Menger dort 1840 zur Welt. Es war eine kleine, eine verträumte Welt. Seitdem Kaiserin Maria Theresia Galizien 1772 als traurigen Ersatz für das von ihr begehrte und reiche Schlesien erhalten hatte – „sie weinte, aber sie nahm“, spottete der siegreiche Erzrivale und Preußenkönig Friedrich –, siedelten die Habsburger Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer, Beamte in diesem verwunschenen Land an. So hielten sie es mit allen ihren Provinzen, was diesen zwar nicht Freiheit, gar Eigenständigkeit, aber wenigstens ein gewisses Maß an Wohlstand, Sicherheit und Fortschritt bescherte.

Für den jungen Carl Menger war diese Welt zu eng. Er studierte Jurisprudenz in Prag und in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, wo er sich als Journalist niederließ. Dabei verfasste er feuilletonistische Artikel, die zuerst in der Lemberger Zeitung – Lemberg war die Hauptstadt Galiziens – und später in der Wiener Zeitung erschienen. Bevorzugt schrieb er Romane und Komödien, die in Serie gedruckt wurden, Gelegenheitswerke, die sein eigentliches Interesse, das Studium der Rechtswissenschaft und der „politischen Ökonomie“, begleiteten. Daneben genoss er die Bekanntschaft mit dem damaligen Staatsminister Richard Graf von Belcredi, der ihn mit Problemen der Volkswirtschaft vertraut machte. So konnte Carl Menger die Wiener Zeitung mit seinen Marktanalysen bereichern – der Beginn seines intensiven Interesses für die Gesetze der Ökonomie.

Es war ein wirtschaftstheoretisches Paradoxon, das den eben erst zum Doktor ernannten Juristen und Wirtschaftsjournalisten monatelang beschäftigte: genauer das „Wasser-Diamanten-Paradoxon“. Niemand kann ohne Wasser leben. So gesehen ist es ein sehr hohes Gut. Nur ganz wenige Menschen brauchen wirklich Diamanten. So gesehen sind Diamanten fast wertlos. Trotzdem zahlt man für Diamanten horrende Summen, für Wasser hingegen fast nichts.

Adam Smith, der im 18. Jahrhundert lebende Begründer der Nationalökonomie, glaubte dieses Paradoxon lösen zu können, indem er zwischen dem „Gebrauchswert“ und dem „Tauschwert“ unterschied: Der Gebrauchswert von Wasser ist sehr hoch, denn jeder benötigt es. Dafür ist der Tauschwert von Wasser gering. Ganz im Gegensatz dazu ist der Tauschwert des Diamanten sehr hoch, daher der hohe Preis, obwohl der Gebrauchswert des Diamanten gering ist. Wirklich befriedigend ist dieser Ansatz einer Erklärung nicht. Denn wie es zum Unterschied in der Höhe des Tauschwerts kommt, bleibt im Dunklen.

Schon vor Adam Smith hatte der schottische Bankier John Law festgestellt: „Wasser besitzt großen Nutzen, aber geringen Wert, die Menge des Wassers ist nämlich viel größer als die Nachfrage danach. Diamanten haben geringen Nutzen, aber großen Wert, da die Nachfrage nach Diamanten viel größer als ihre Menge ist.“ Damit dürfte er den Angelpunkt fixiert haben, mit dessen Hilfe das Paradoxon aufgelöst werden kann.

Carl Menger entwirft zur Erklärung des „Wasser-Diamanten-Paradoxons“ das Bild eines Bauern, der fünf Säcke Weizen sein Eigen nennt. Den ersten Sack Weizen betrachtet er als lebensnotwendig, denn damit bäckt er sein Brot. Er muss nicht verhungern. Mit dem Weizen des zweiten, für ihn immer noch wertvollen Sackes bäckt er noch mehr Brot. Das gibt ihm und den Seinen Kraft. Mit dem Weizen des dritten Sackes, der nicht mehr ganz so wertvoll ist, kann er die Tiere seines Stalls füttern. Den Weizen des vierten Sackes hortet er als Saatgut für das nächste Jahr. Den Weizen des fünften Sackes braucht er eigentlich nicht mehr. Der Bauer brennt aus dem Weizen des fünften Sackes Korn, einen Getreideschnaps.

Sollte dem Bauern einer seiner fünf Säcke gestohlen werden, was würde er tun? Wäre der Nutzen von Weizen stets der gleiche, müsste er eigentlich den Weizen der verbliebenen vier Säcke auf fünf gleich große Haufen aufteilen und mit jedem der Haufen dasselbe anstellen wie mit den Säcken zuvor: den ersten Haufen für das lebensnotwendige Brot verwenden, den zweiten Haufen für das stärkende Brot, den dritten Haufen für das Füttern der Tiere, den vierten Haufen für das Horten des Saatguts und den fünften für das Brennen des Korns. Aber kein Bauer – denn Bauern sind bekanntlich klug – wird so verfahren. Die verbliebenen vier Säcke wird er vielmehr so verwenden wie zuvor beschrieben. Nur das überflüssige Brennen des Schnapses wird er unterlassen.

Bauern sind sogar so klug, dass sie sich nicht bestehlen lassen. Doch verkaufen könnte der Bauer seinen fünften Sack, anstatt ihn selbst zu Korn zu brennen, den er und die Seinen vielleicht nie trinken werden. Wie lautet aus der Sicht des Bauern der angemessene Preis? Carl Menger kennt die Antwort: Es ist jener Preis, den er für den Erwerb des fünften Sackes zahlen würde, mit dessen Weizen er den Schnaps brennt.

Nicht der absolute oder der durchschnittliche Nutzen von Weizen, sondern sein „Grenznutzen“ bestimmt den Preis: jener Nutzen, den dem Bauern über die bereits bei ihm gelagerten Säcke hinaus ein weiterer Sack bringt. Darum, so Carl Menger, ist Wasser so billig: Ein weiterer Liter Wasser zu dem sprichwörtlichen Überfluss des bereits vorhandenen wird als eher bedeutungslos empfunden. Allein inmitten der Sahara wird Wasser mit Diamanten aufgewogen.

Die aus diesen einfachen Gedanken entwickelte wirtschaftliche Theorie machte Carl Menger in der wissenschaftlichen und politischen Welt berühmt. Er wurde zu einer der einflussreichen Persönlichkeiten der Habsburgermonarchie. Die Universität Wien ernannte ihn zum Privatdozenten, später zum Professor an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät, und Kaiser Franz Joseph höchstselbst wurde auf ihn aufmerksam. Ihm wurde die Ehre zuteil, dem Monarchen drei Monate lang die Grundzüge seiner Volkswirtschaftslehre darzulegen. Des Kaisers achtzehnjähriger Sohn Rudolf bekam ihn als Privatlehrer zugewiesen, und tatsächlich bereisten die beiden zwei Jahre lang ganz Europa. Während dieser Zeit und in den nachfolgenden Jahren bis zum Tod Rudolfs dürfte Menger den hochbegabten und sensiblen jungen Mann zum Freund gewonnen und in ihm Interessen für eine moderne, liberale Staatsführung geweckt haben. Aber alle Hoffnungen, die dem jungen Kronprinzen von Seiten der Liberalen entgegengebracht wurden, machten die Schüsse zunichte, mit denen er 1889 im Alter von dreißig Jahren seine junge Geliebte, die siebzehnjährige Baroness Mary Vetsera, und sich selbst niederstreckte.

Den guten Beziehungen zum Kaiserhaus dürfte es Carl Menger zu verdanken haben, dass sein 1902 in Wien geborener Sohn Karl als legitimes Kind anerkannt wurde. Denn Karls Mutter, Hermine Andermann, war Jüdin. Der katholische Vater und die jüdische Mutter konnten in einem Land, das nur von der Kirche oder der Synagoge durchgeführte Trauungen anerkannte, nicht heiraten. Die beiden lebten in einer eheähnlichen Gemeinschaft, einer, wie man damals sagte, Marriage sui juris. Kinder aus solchen Verbindungen galten als unehelich, was eine gesellschaftliche Ächtung bedeutete. Schon vorzeitig, kurz nach der Geburt seines Sohnes, ließ sich Carl Menger in den Ruhestand versetzen, um seine Familie so vor Tratsch zu beschützen. Umso dankbarer war er dem Kaiserhaus, dass seiner Bitte, den Status des unehelichen Kindes für seinen Sohn aufzuheben, nachgekommen wurde.

Mengers Weggang von der Universität bedeutete für diese einen herben Verlust, der allein dadurch gemildert wurde, dass er auch als von seinen Verpflichtungen befreiter Professor weiter Kontakt zu seinen Schülern hielt. Felix Somary, den Menger in den letzten Jahren seines aktiven Dienstes bereits als Achtzehnjährigen zu seinem Assistenten ernannte, schreibt in seinen Erinnerungen: „Die Wiener Universität stand in jenen Tagen an der Spitze der nationalökonomischen Schulen der Erde: Carl Menger, der führende nationalökonomische Theoretiker, und nach ihm seine großen Schüler Böhm-Bawerk und Wieser, Philippovich, der Meister des objektiven Resümees, Inama-Sternegg, der erste Wirtschaftshistoriker – das war ein einzigartiges Zusammenwirken großer Persönlichkeiten. Die Diskussionen in den Seminarien waren auf hohem Niveau, da auch unter den Studenten meines Jahrgangs ungewöhnliche Begabungen waren, wie Schumpeter, Pribram, Mises, Otto Bauer, Lederer, Hilferding. Keiner von ihnen sollte sein Leben in Österreich...

 

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