Warum wir verstehen, was andere fühlen - Der Mythos der Spiegelneuronen

Gregory Hickok

Warum wir verstehen, was andere fühlen

Der Mythos der Spiegelneuronen

2015

368 Seiten

Format: ePUB

E-Book: €  7,99

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ISBN: 9783446443266

 

Vorwort


Eine neuronale Blaupause für menschliches Verhalten?

Als 1953 die DNA entdeckt wurde,1 veränderte das die Biologie für immer. Die DNA ist die Blaupause allen Lebens, die entscheidende Grundlage zum Verständnis davon, wie Organismen aufgebaut sind, wie sie sich entwickeln und wie es zu Fehlentwicklungen wie Krankheit kommen kann.

Auf den epochalen Einfluss der DNA berief sich im Jahr 2000 der Psychologe V. S. Ramachandran in einer Prognose bezüglich des damals gerade neu entdeckten Typs von Gehirnzellen, der Spiegelneuronen:

Ich sage voraus, dass die Spiegelneuronen für die Psychologie das darstellen werden, was für die Biologie die DNA war: Sie werden einen integrativen Rahmen bieten, mit dem sich eine ganze Reihe von mentalen Fähigkeiten erklären lässt, die bisher ein Rätsel und für Experimente unerreichbar waren.2

(Gemessen am Titel von Ramachandrans 2010 veröffentlichtem TED-Talk über Spiegelneuronen, »The Neurons that Shaped Civilization« (Die Neuronen, die die Kultur herausformten), hat ein Jahrzehnt intensiver Forschung an diesem Zelltyp seine Prognose offenbar bestätigt.)

2008 stimmte der Neurowissenschaftler Marco Iacoboni von der University of California (Los Angeles) in Ramachandrans Begeisterung über diesen Typ Gehirnzellen ein:

Wir verdanken unser äußerst subtiles Verständnis vom Wesen und Handeln anderer Menschen dem Wirken gewisser Ansammlungen von besonderen Zellen in unserem Gehirn, die man als Spiegelneuronen bezeichnet. Spiegelneuronen sind kleine Wunderwerke, die uns durch den Tag bringen. Sie sorgen für unsere – mentale und emotionale – Bindung aneinander. […] Spiegelneuronen liefern zweifellos zum ersten Mal in der Geschichte eine plausible neurophysiologische Erklärung für komplexe Formen der sozialen Wahrnehmung und Interaktion.3

Ramachandran und Iacoboni stehen mit ihrem Überschwang nicht allein da. Wissenschaftliche Zeitschriften quellen über von Artikeln, die unter Berufung auf die Spiegelneuronen alle möglichen Phänomene erklären: die menschliche Sprache, Imitation, soziale Wahrnehmung, Empathie, Gedankenlesen, Wertschätzung für Musik und Kunst, das Mitfiebern von Zuschauern bei Sportveranstaltungen, aber auch Stottern und Autismus. 2005 versprach ein Artikel im Wall Street Journal in seinem Titel Aufklärung darüber, »wie Spiegelneuronen uns zur Empathie helfen, sodass wir den Schmerz der Anderen selbst empfinden«; im selben Jahr strahlte NOVA eine Sendung mit dem einfachen Titel »Spiegelneuronen« aus, und 2006 titelte die New York Times in einem Artikel zum Thema »Zellen, die Gedanken lesen«. Bücher und Blogs preisen die Leistung der Spiegelneuronen bei allen Abläufen zwischen Klassenzimmer und Golfplatz. Auch das Ausmaß einer Erektion beim Mann wurde mit der Aktivität von Spiegelneuronen in Verbindung gebracht.4 Glaubt man einer jüngeren Nachrichtenmeldung, so ließ sich sogar der Dalai Lama zu einem Besuch an die University of California locken, um sich über die Rolle der Spiegelneuronen bei der Kultivierung des Mitgefühls zu informieren. Dazu passt, dass diese Neuronen manchmal auch als »Dalai Lama-Neuronen« bezeichnet werden.

Was hat es nun auf sich mit diesen wundersamen menschlichen Gehirnzellen, die von der Erektion bis zum Autismus für alles eine Erklärung parat haben? Erstaunlicherweise beruhen all diese Spekulationen über menschliches Verhalten keineswegs auf Forschungsarbeiten der humanen Neurowissenschaften. Vielmehr ist der theoretische Grundpfeiler ein Zelltyp, der im Motorcortex einer Makakenart, der Schweinsaffen, lokalisiert wurde, bei Tieren also, die nicht sprechen, keine Wertschätzung für Musik haben und eigentlich auch nicht besonders nett zueinander sind. Was Spiegelneuronen da leisten, ist bescheiden, zumindest gemessen an den menschlichen Fähigkeiten, die sie angeblich ermöglichen. Die Haupteigenschaft dieser Zellen besteht darin, dass sie sowohl dann aktiv sind (»feuern«, sagen Hirnforscher), wenn ein Affe nach einem Gegenstand greift, als auch dann, wenn der Affe zusieht, wie jemand anderes nach einem Gegenstand greift. Fertig. Aus diesem einfachen Reaktionsmuster entwarfen Neurowissenschaftler und Psychologen eine der weitreichendsten Theorien der Psychologiegeschichte über die neuronale Grundlage menschlichen Verhaltens.

Was also an diesem offenbar einfachen Reaktionsmuster der Spiegelneuronen bei Makaken hat eine ganze Generation von Wissenschaftlern derart in Aufruhr gebracht? Wie ist es möglich, dass eine Zelle im Motorcortex eines Affen die neuronale Blaupause für menschliche Sprache, Empathie, Autismus und vieles mehr darstellen kann? Wo sind die logischen Bausteine, die diese Schlussfolgerung erlauben?

Die Grundidee ist ganz einfach – und das macht sie so verlockend. Wenn ein Affe nach einem Gegenstand greift, »versteht« er seine eigene Handlung, das Ziel, das damit verbunden ist, warum dieses bestimmte Ziel angestrebt wird und so weiter. Kurz, der Affe »weiß«, was er tut – und warum. So weit, so gut. Was aber forschende Affengeister wirklich wissen wollen, ist, was andere Affen vorhaben. Will er mir gleich mein Futter stehlen oder ist er nur auf dem Weg zum Wasserloch? Das ist eher schwierig herauszufinden. Die Frage lautet also: Wie lassen sich die Handlungen Anderer lesen (oder verstehen)? Spiegelneuronen bieten dazu eine einfache Antwort, weil sie sowohl dann feuern, wenn der Affe eine Handlung ausführt, als auch dann, wenn er ähnliche Handlungen bei anderen Affen beobachtet: Versteht der Affe die Bedeutung seiner eigenen Handlungen, so kann er durch die Simulation der Handlungen Anderer in seinem eigenen neuronalen Handlungssystem die Bedeutung der Handlungen Anderer verstehen.

Ein raffinierter Trick, das Wissen über eigene Handlungen dazu zu nutzen, Informationen über die Absichten Anderer einzuholen – die möglichen Anwendungen erstrecken sich weit über das Affenlabor hinaus. Von diesem Ausgangspunkt aus scheint der Schritt von den Spiegelneuronen zur menschlichen Kommunikation und Kognition logisch. Auch Menschen müssen die Absichten hinter den Handlungen anderer Menschen lesen können, vielleicht haben sie also auch ein Spiegelsystem. Eine wichtige menschliche Handlung ist die Sprache; vielleicht steckt hinter diesem Glanzstück der menschlichen Kognition ja ein Simulationsmechanismus auf Grundlage der Spiegelneuronen. Auch Sport beruht ganz eindeutig auf Handlungen; vielleicht geraten wir beim Anfeuern unseres Lieblingsvereins deshalb so aus dem Häuschen, weil die Spiegelneuronen uns regelrecht aufs Spielfeld versetzen, jeden Abschlag, jede Flanke und jeden Schuss simulieren. Doch wir Menschen können nicht nur Handlungen begreifen. Wir verstehen auch Emotionen und mentale Zustände der Anderen; vielleicht verbirgt sich auch hinter der Empathie ein spiegelartiger Mechanismus. Bei manchen Erkrankungen wie etwa Autismus besteht nach landläufiger Meinung ein Mangel an Empathiefähigkeit; vielleicht entsteht ja Autismus aus dem Verlust von Spiegelneuronen. Auch für Evolutionstheoretiker haben die Spiegelneuronen etwas zu bieten: Sie bieten sich als (bislang fehlendes) Bindeglied an zwischen einem Affenneuron, das beim Erkennen der Handlungen Anderer mitwirkt, und hoch ausdifferenzierten menschlichen kognitiven Fähigkeiten – und damit können Spiegelneuronen als Ausgangspunkt für eine Theorie zur Evolution des menschlichen Geistes herhalten. Ein Beispiel: Wenn Spiegelneuronen bei Affen das Verständnis einfacher gestueller Handlungen ermöglichen (etwa das Greifen eines Gegenstandes), dann braucht die natürliche Selektion zur Evolution der Sprache nur den Spielraum des Handlungsverständnisses so zu erweitern, dass auch mit Stimmgebung verbundene Handlungen einbezogen werden, etwa Affenrufe. Die Erklärungsmacht dieser so täuschend einfachen Zellen wirkt in der Tat beeindruckend.

Wie bei vielen Kognitionswissenschaftlern weckten die Spiegelneuronen auch meine Neugier, als ich in den 1990er Jahren erstmals davon hörte. Wirkliches Interesse für ihre Eigenschaften und die Hypothesen, die um sie herumschwirrten, brachte ich aber erst dann auf, als der theoretische Tornado auch in meinem eigenen Forschungsgebiet einigen Staub aufwirbelte. Ich untersuche die neuronalen Grundlagen von Sprache und Sprechen, mit Schwerpunkt auf der Sprachwahrnehmung und sensomotorischen Funktionen: Wie nimmt das Gehirn einen variierenden Strom von Luftdruckwellen (die beim Zuhören von Sprache auf die Ohren treffen) auf und konvertiert ihn in erkennbare Laute, Wörter, Sätze und Gedanken? Wie lernen wir, die Laute unserer Sprache zu artikulieren? Warum haben wir einen Akzent, wenn wir eine Fremdsprache lernen? Warum spricht es sich so schwer, wenn man bei einer schlechten Telefonleitung ein Echo seiner eigenen Stimme hört? Woher kommt unsere »innere Stimme« – das Gefühl, dass wir unsere Stimme hören, wenn wir »im Kopf reden« –, und wozu dient sie? Solche Fragen wollte ich (und will ich bis heute) beantworten.

Die Spiegelneuronen lieferten nun einem anschwellenden Chor von Forschern zufolge auf all diese und noch viel mehr Fragen eine einfache Antwort. Schon lange bekam ich auf Konferenzen und Vorträgen über mein Forschungsgebiet Fragen über Spiegelneuronen gestellt. Lässt sich das nicht mit den Spiegelneuronen erklären? Das kann doch nicht stimmen, wir wissen ja, dass Spiegelneuronen die...

 

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