Das Ende der Krankheit - Die neuen Versprechen der Medizin

Joachim Müller-Jung

Das Ende der Krankheit

Die neuen Versprechen der Medizin

2014

296 Seiten

Format: ePUB

E-Book: €  15,99

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ISBN: 9783446436459

 

»Wer nicht älter werden will, soll halt früher sterben!«

Hannelore Elsner

1 Regenerative Medizin: die Vision


»Leben und Tod liegen in der Zelle.« Dieser wegweisende Satz ist weit mehr als hundert Jahre alt. Damals war er weniger vom Wissen über die Zelle geleitet als von der Einsicht, dass die wahren Geheimnisse der Lebensprozesse für uns erst wirklich sichtbar werden, wenn wir den Körper quasi unters Mikroskop legen. Er wurde von einem der Medizin-Revolutionäre der Neuzeit geprägt, dem Berliner Zellularpathologen Rudolf Virchow. 1 Mit ihm beginnt unsere Reise zum »Ende der Krankheit« und dem, was wir vereinfachend als Jungbrunnen bezeichnen wollen – und was als Vision der regenerativen Medizin zugrunde liegt. Dieses Bild davon, wie man sich die Quelle der ewigen Jugend vorstellen könnte, hat 1546 der reformatorische Hofmaler und Freund Martin Luthers, Lukas Cranach der Ältere, mit seinem »Jungbrunnen« geliefert. Das Bild zeigt ältere Frauen, die in das Becken eines Brunnens steigen und es auf der anderen Seite mit jugendlichem Körper wieder verlassen. Die Wurzeln dieser Wunschvorstellung reichen weit zurück in die griechische Antike mit ihrer reichen Mythologie und ihrem Körperkult. Und sie ist in den Köpfen der Menschen auch in der mit Virchow endgültig vorherrschenden naturwissenschaftlich-empirischen Epoche der Heilkunde lebendig geblieben.

Spätestens mit dem Beginn von Virchows Zellularpathologie und der modernen Medizin setzte die Phase ein, in der die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen in den Ländern des Westens kontinuierlich anstieg – nahezu ohne Unterbrechungen von weniger als 50 Jahren Mitte des 19. Jahrhunderts auf heute 83 Jahre für Frauen und 78 Jahre für Männer. Ein entscheidender Schnitt, möglicherweise sogar ein deutlicher Sprung kündigt sich hingegen eben erst an. Deshalb sollten wir unsere Geschichte zwar mit Virchows Ansicht über die Zelle, aber in der Gegenwart beginnen lassen und uns sogleich ins Epizentrum des neuen medizinischen Umbruchs bewegen. Dieses liegt in Fernost, in der japanischen Kaiserstadt Kyoto.

Wer verstehen will, was die regenerative Medizin antreibt, wird hier einen seiner wichtigsten Kronzeugen finden. Kyoto, eine der bezauberndsten Städte Japans und traditionsverliebt wie kaum eine andere im Land, ist nicht nur reich an Schreinen, sondern vor allem auch an ambitionierten Wissenschaftlern. Tausende sind es, die auch in den schwierigen wirtschaftlichen Jahren der jüngeren Vergangenheit nicht nachgelassen haben, sich mit den milliardenschweren Forschungshochburgen an der amerikanischen Ostküste oder den Forschern der kalifornischen Innovationszentren zu messen. Kyotos Symbolfigur in dieser Hinsicht ist Shinya Yamanaka. Ein Nationalheld, wie man ohne Übertreibung sagen kann.

Shinya Yamanaka und die iPS-Zellen


Ich habe Yamanaka im November 2007 zum ersten Mal getroffen, als ihm am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg der Meyenburg-Preis verliehen wurde. Damals, er war fünfundvierzig und sah noch aus wie ein schüchterner Wirtschaftsstudent, war sein Name eine Art Geheimtipp in der Gemeinde der Biomediziner. Dass dieser junge Mann mit der holprigen Englischaussprache einmal die Medizin umkrempeln könnte, ahnte noch niemand. Jedenfalls äußerten sich alle seine Kollegen extrem vorsichtig. Auffallend war nur sein Hang zur Ironie; das ausgesprochen sympathische, fast unasiatische Bemühen, seinen Vortrag mit – fast immer treffsicheren – Pointen aufzulockern.

Seine erste bahnbrechende Studie hatte er kaum ein Jahr zuvor veröffentlicht – die erste »Bombe«, wie es einer der Pioniere der Genforschung, Rudolf Jaenisch vom Massachusetts Institute of Technology, später bezeichnete. Yamanaka hatte mit seinem Mitarbeiter Takahashi Kazutoshi in der Zeitschrift Cell seinen bahnbrechenden Aufsatz über die künstliche Erzeugung von extrem wandlungsfähigen Stammzellen aus der Haut von Mäusen (»Induction of Pluripotent Stem Cells from Mouse embryonic and adult Fibroblast Cultures by defined Factors«) veröffentlicht. Es war der Urknall gewesen für die neue Medizin. Nur, wie gesagt, so recht daran glauben mochte damals nach den ersten Tierexperimenten nicht jeder.

Ein paar Monate vor Yamanakas Visite in Heidelberg war sein Name schon einmal gefallen, und zwar in Berlin. Es war auf einer Anhörung des Forschungsausschusses im Bundestag. Seinerzeit war es um die Novellierung des Stammzellgesetzes gegangen. Stammzellen sind die ungewöhnlichsten Körperzellen, die man sich vorstellen kann, und es sind die Zellen, um die es in diesem Buch gehen wird. Aus gutem Grund. Das Besondere einer Stammzelle ist ihr Reifezustand: Sie ist für den Körper, was das weiße Blatt für den Origami-Künstler ist. Aus ihr kann vieles entstehen. Die Stammzellen sind, wenn man so will, die aus der befruchteten Eizelle hervorgegangen Frischzellen-Reserven des Körpers – wobei es durchaus unterschiedliche Frischezustände geben kann. Entwicklungsbiologisch am frischesten sind die embryonalen Stammzellen. Sie wurden einige Jahre vor Yamanakas Arbeit erstmals mit Hilfe von Reproduktionskliniken und der Zustimmung von Paaren, die sich einer künstlichen Befruchtung unterzogen hatten, aus dem Inneren von übrig gebliebenen, wenige Tage alten, etwa hundert Zellen umfassenden Keimbläschen (Blastozysten) gewonnen – wobei die frühen Embryonen zerstört wurden.

Das deutsche Stammzellgesetz sollte die Herstellung von solchen speziellen embryonalen Stammzellen verhindern. Yamanaka war in Berlin zum wichtigsten Zeugen für die Gegner der Embryonenforschung geworden. Als er 2006 seinen Aufsatz publizierte, gab es immer noch über die Parteigrenzen hinweg vehemente biopolitische Debatten darüber, ob es moralisch gerechtfertigt sei, die Millimeter kleinen, im Reagenzglas gezeugten Keimbläschen, die alles enthalten, was einen Embryo ausmacht, für die Entnahme von Stammzellen zu gebrauchen.

Yamanakas Arbeit wies für die Gegner den Weg aus dem ethischen Dilemma der Embryonenforschung. Er hatte im Mäuseexperiment gezeigt, dass es prinzipiell möglich war, durch die Kontrolle von lediglich vier Genen aus ganz gewöhnlichen Hautzellen zumindest embryonenähnliche Zellen herzustellen, aus denen dann in der Petrischale praktisch unbegrenzt jede Körperzelle gezielt herstellbar ist. Aus alt mach neu. Goethes Zauberlehrling verwandelte den Besen in einen Knecht. Yamanakas Verfahren war technisch zwar noch keinewegs so elegant und ausgereift, wie man es sich bei moderner Jungbrunnen-Alchemie vorstellt. Aber die Ergebnisse waren so beachtlich wie die Vision dahinter.

Und auf die Vision kommt es an, gerade dem Japaner Yamanaka. Er hat wie alle in der Stammzellbranche nicht ein einzelnes fernes Ziel, sondern gleich eine ganze Liste voller hochfliegender Träume: Alzheimer besiegen, Parkinson beseitigen, Herzkranke heilen, Blinde sehend und Gelähmte wieder gehend machen. Allen Mahnungen zum Trotz, die Schraube nicht zu überdrehen und keine Enttäuschungen zu provozieren, wird die Hoffnungsspirale immer höher geschraubt. Auch von Yamanaka selbst. Im Jahr 2012, als er zusammen mit dem britischen »Vater des Klonens«, Sir John Gurdon, den Nobelpreis für Medizin verliehen bekam, hat er die inneren Kräfte beschrieben, die ihn antreiben. Nur sechs Jahre hatte es für ihn, den leidenschaftlichen Experimentator, von der ersten Veröffentlichung bis zur höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung gedauert. Eine historische Ausnahme. Der britische Klonpionier hatte fünf Dekaden warten müssen, bis einer wie Yamanaka kam, der das, was Gurdon selbst zaghaft an Fröschen ausprobiert und gezeigt hatte, nämlich die Reprogrammierbarkeit des Erbmaterials, in einen visionären medizinischen Kontext zu stellen vermochte.

Möglich geworden ist dies dadurch, dass sich in kürzester Zeit die digitale Revolution von der Computerindustrie auf die Lebenswissenschaften übertragen hat und schließlich von dieser selbst und ihren Protagonisten, den Bioingenieuren, in den Schatten gestellt wurde. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms war sicher ein entscheidender Schritt. Den digitalen Code des Bauplans technisch verfügbar zu machen, war aber nur der Einstieg. Denn inzwischen ist der »Kern jedes Lebewesens«, wie der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins schon 1986 schrieb, als Information identifiziert: »Kein Feuer, kein warmer Atem und kein Lebensfunke sind es, sondern Informationen, Worte, Instruktionen.«2

Leben ist Information


Das Leben, Krankheiten und die Frage unserer Gesundheit hängen, wie in späteren Kapiteln beschrieben wird, von einem adäquaten Informationsfluss ab: den Signalen, welche die Gene in der Erbsubstanz DNA steuern, den Signalen zwischen den Zellen und – ganz entscheidend für die Kontrolle von außen – den Signalen, welche von der Umwelt in die Regulationsmechanismen des Genoms eingreifen. Das genetische Programm in den Zellen selbst wird durch ein Netzwerk von Informationen überlagert, das über ein »epigenetisches« Programm die Lebensprozesse in den Zellen steuert. Wenn also von Reprogrammierung der Zellen die Rede ist, dann geht es um die konkrete Möglichkeit, denjenigen Entwicklungsplan, der auf Basis der DNA von den ersten Zellen im Embryo bis zum Erwachsenen über eine Informationskaskade abläuft, durch gezielte Manipulation wiederherzustellen. Es...

 

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